Entscheidungsstichwort (Thema)

Anfechtbarkeit einer der Entrichtung von freiwilligen Beiträgen zur Aufrechterhaltung bzw Wiedererlangung des Versicherungsschutzes im Hinblick auf Berufs- bzw Erwerbsunfähigkeit oder Erwerbsminderung zugrunde liegenden Erklärung des Versicherten. Rechtsfolgeirrtum. Erstattung der Beiträge

 

Leitsatz (amtlich)

1. Die Entrichtung freiwilliger Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung ist ein Rechtsgeschäft, auf das die zivilrechtlichen Vorschriften über die Willenserklärung und die Anfechtung entsprechend anwendbar sind.

2. Hat der Versicherte freiwillige Beiträge in der irrigen Annahme entrichtet, dass er damit seinen Versicherungsschutz im Hinblick auf Erwerbsminderung aufrecht erhält bzw wiedererlangt, so kann er die der Beitragsentrichtung zugrunde liegende Erklärung (nach § 119 Abs 1 BGB) anfechten und die Erstattung der Beiträge (nach § 26 Abs 2 SGB 4) verlangen, sofern ein rechtlich beachtlicher Rechtsfolgenirrtum vorliegt.

3. Anhand der Besonderheiten des Einzelfalles ist eine Abgrenzung danach vorzunehmen, ob (auf der Ebene der Willensbestätigung) ein rechtlich beachtlicher Rechtsfolgenirrtum als Unterfall des Inhaltsirrtums oder aber ein (im Stadium der Willensbildung angesiedelter) unbeachtlicher Motivirrtum vorliegt.

 

Nachgehend

BSG (Urteil vom 23.10.2003; Aktenzeichen B 4 RA 27/03 R)

 

Tenor

I. Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Marburg vom 20. September 2001 aufgehoben.

Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 20. März 2000 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15. August 2000 verurteilt, die von dem Kläger für die Zeit vom 1. Januar 1994 bis 29. Februar 2000 gezahlten freiwilligen Beiträge zu erstatten.

II. Die Beklagte hat dem Kläger die notwendigen außergerichtlichen Kosten beider Instanzen zu erstatten.

III. Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist die Erstattung freiwilliger Beiträge für die Zeit vom 1. Januar 1994 bis 29. Februar 2000 streitig.

Der am 14. April 1954 geborene Kläger legte in der Zeit vom 1. August 1969 bis zum 31. Dezember 1989 -- zuletzt als Arbeitnehmer in einer Firma für Leiterplatten -- Pflichtbeitragszeiten in der gesetzlichen Rentenversicherung zurück. Für die nachfolgende Zeit vom 2. Januar 1990 bis 30. Juni 1990 ist im Versicherungsverlauf eine Anrechnungszeit wegen Arbeitslosigkeit vorgemerkt. Seit Juni 1990 war der Kläger sodann selbständig erwerbstätig als Geschäftsführer der Firma Sch GmbH in L Aus wirtschaftlichen Gründen wurden zunächst keine Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung entrichtet.

Im Jahre 1993 wurde der Kläger nach eigenen Angaben von seinem neuen Steuerberater darauf hingewiesen, dass für ihn kein Versicherungsschutz gegen Erwerbsunfähigkeit bestehe. Er begab sich daraufhin im November/Dezember 1993 zu einem Beratungsgespräch in die Auskunfts- und Beratungsstelle der Beklagten in Gießen. Die Einzelheiten und der genaue Inhalt des seinerzeit geführten Beratungsgespräches sind streitig.

Am 27. Dezember 1993 ging bei der Hauptstelle der Beklagten in Berlin ein vom Kläger eigenhändig unterschriebener "Antrag auf Beitragszahlung zur Angestelltenversicherung" ein. In dem handschriftlich ausgefüllten und mit "Marburg, den 22. Dezember '93" schließenden Antragsformular wurde durch Ankreuzen einer der drei aufgeführten Möglichkeiten (freiwillige Versicherung/Pflichtversicherung von selbständig Tätigen/Höherversicherung) die Zulassung zur Entrichtung freiwilliger Beiträge für die Zeit ab dem 1. Januar 1994 beantragt. Diesem Antrag gab die Beklagte durch Bescheid vom 11. Januar 1994 statt. Der Kläger zahlte in der Folgezeit bis einschließlich Februar 2000 lückenlos freiwillige Beiträge.

Nach eigenen Angaben erfuhr der Kläger erstmals anlässlich eines weiteren, am 29. Februar 2000 in der Auskunfts- und Beratungsstelle der Beklagten in Gießen geführten Beratungsgespräches, dass durch die Entrichtung freiwilliger Beiträge kein Versicherungsschutz gegen Berufsunfähigkeit bzw. Erwerbsunfähigkeit begründet werden könne. Er erklärte daraufhin zur Niederschrift am 29. Februar 2000, dass er die Zahlung freiwilliger Beiträge mit sofortiger Wirkung einstelle. Zugleich beantragte er die Erstattung der seit 1994 bereits entrichteten freiwilligen Beiträge und machte geltend, er habe die Beiträge in der unzutreffenden Annahme entrichtet, hiermit werde sein Versicherungsschutz im Hinblick auf eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit bzw. Berufsunfähigkeit aufrechterhalten. Im Rahmen des Beratungsgespräches bei der Beklagten im Dezember 1993 sei ihm mitgeteilt worden, im Falle der Entrichtung von mindestens 36 freiwilligen Beiträgen werde ein entsprechender Versicherungsschutz wiedererlangt. Nachdem dies nicht zutreffe, bringe die Beitragsentrichtung ihm keinen Nutzen.

Durch Bescheid vom 20. März 2000 lehnte die Beklagte den Erstattungsantrag des Klägers mit der Begründung ab, der Kläger habe im Dezember 1993 für die Zeit ab dem 1. Januar 1994 die Zahlung von freiwilligen Bei...

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