Entscheidungsstichwort (Thema)

Arbeitslosengeld. Anspruchsdauer. Spontanberatungspflicht der Bundesanstalt für Arbeit. Verschiebung der Arbeitslosmeldung. sozialrechtlicher Herstellungsanspruch

 

Leitsatz (amtlich)

1. Die Beklagte ist verpflichtet, den Arbeitslosen spontan ohne ein konkretes Ersuchen zu beraten und ihm die Vorteile einer späteren Arbeitslosmeldung zu erläutern, wenn der Arbeitslose erkennbar vor Vollendung einer Lebensaltersstufe steht und sich bei einem Aufschub seines Antrags eine längere Anspruchsdauer ergibt.

2. Es ist möglich, die rechtliche Wirkung der Arbeitslosmeldung auf einen späteren Zeitpunkt zu verschieben.

3. Liegen die Voraussetzungen des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs vor, unterliegt damit nicht nur der Antrag auf Arbeitslosengeld als Willenserklärung entsprechenden Gestaltungsmöglichkeiten, sondern auch die Wirkung der Arbeitslosmeldung.

 

Tenor

I. Die Berufung der Beklagten gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 6. Juli 2004 wird zurückgewiesen.

II. Die Beklagte hat dem Kläger die notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

III. Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Streitig ist, ob die Beklagte auf der Grundlage eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs verpflichtet ist, statt des ab 1. Juli 2001 gewährten Arbeitslosengeldes für 780 Tage Arbeitslosengeld für 960 Tage ab dem 9. Juli 2001 zu gewähren.

Der 1944 geborene Kläger meldete sich am 3. November 1997 erstmals arbeitslos. Vorausgegangen waren sozialversicherungspflichtige Beschäftigungen vom 15. Oktober 1986 bis 31. März 1997 und ein Krankengeldbezug vom 1. April 1997 bis 2. November 1997. Die Beklagte bewilligte Arbeitslosengeld ab 3. November 1997 mit einer Anspruchsdauer von 789 Tagen (Bescheide vom 28. November 1997 und 19. Dezember 1997).

Nachdem der Kläger am 9. Februar 1998 wiederum eine versicherungspflichtige Beschäftigung aufgenommen hatte, hob die Beklagte die Leistungsbewilligung ab diesem Tag mit Bescheid vom 18. Februar 1998 auf. Es verblieb dem Kläger ein Restanspruch auf Arbeitslosengeld von 691 Tagen.

Das neue Arbeitsverhältnis des Klägers endete durch Kündigung des Arbeitgebers zum 30. Juni 2001. Bereits am 26. Juni 2001 meldete sich der Kläger zum 1. Juli 2001 erneut arbeitslos. Die Beklagte bewilligte daraufhin mit Bescheid vom 25. Juli 2001 Arbeitslosengeld für 780 Tage ab 1. Juli 2001. Inzwischen hatte der Kläger am 9. Juli 2001 das 57. Lebensjahr vollendet.

Mit Schreiben vom 19. März 2002 erhob der Kläger Widerspruch und beanstandete unter Hinweis auf ein Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 22. November 2001 (L 1 AL 74/01) die festgesetzte Bezugsdauer. Die Beklagte habe es versäumt, ihn darüber aufzuklären, dass er sich erst nach Vollendung seines 57. Lebensjahres hätte arbeitslos melden dürfen, um in den Genuss von 32 Monaten Arbeitslosengeld kommen zu können.

Mit Blick auf die Versäumung der Widerspruchsfrist beantragte der Kläger, sein Schreiben vom 19. März 2002 als Überprüfungsantrag nach § 44 Sozialgesetzbuch X (SGB X) anzusehen.

Mit Bescheid vom 6. Mai 2002 lehnte die Beklagte die Abänderung des Bewilligungsbescheides vom 25. Juli 2001 gemäß § 44 SGB X ab, da weder das Recht unrichtig angewandt noch von einem falschen Sachverhalt ausgegangen worden sei. Den Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 23. Januar 2003 als unbegründet zurück, da am 1. Juli 2001 alle in § 117 Sozialgesetzbuch III (SGB III) normierten Anspruchsvoraussetzungen vorgelegen hätten. Hierzu gehöre gemäß § 117 Abs. 1 Nr. 2 SGB III auch die Arbeitslosmeldung. Die Arbeitslosmeldung sei eine Tatsachenerklärung, die weder zurückgenommen noch angefochten noch auf andere Weise beseitigt werden könne. Die Arbeitslosmeldung zum 1. Juli 2001 könne mithin nicht fiktiv auf einen späteren Zeitpunkt gelegt werden.

Am 21. Februar 2003 hat der Kläger zum Sozialgericht Frankfurt am Main (SG) Klage erhoben. Die Beklagte sei von sich aus verpflichtet gewesen, ihn auf die Möglichkeit eines Aufschubs seines Arbeitslosengeldantrags hinzuweisen. Er wäre dieser Gestaltungsmöglichkeit auch nachgekommen, da er für die um acht Monate verlängerte Bezugsdauer lediglich einen Zeitraum von acht Tagen hätte überbrücken müssen. Auch nach der spezifischen gesetzlichen Funktion des Arbeitslosengeldantrags - diesem komme im SGB III ein Doppelcharakter zu, da der Antrag das Verwaltungsverfahren in Gang setze und zugleich materielle Anspruchsvoraussetzung sei - spreche nichts gegen die Möglichkeit, die Wirksamkeit eines bereits gestellten Antrags auf Arbeitslosengeld im Wege des Herstellungsanspruchs auf einen späteren Zeitpunkt zu verschieben.

Mit Gerichtsbescheid vom 6. Juli 2004 hat das SG der Klage stattgegeben und die Beklagte verpflichtet, dem Kläger unter Abänderung des Bescheides vom 25. Juli 2001 und unter Verrechnung des für den Zeitraum vom 1. Juli 2001 bis 8. Juli 2001 bereits gezahlten Arbeitslosengeldes Arbeitslosengeld für 960 Tage ab dem 9. Juli 2001 zu bewilligen. Die...

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