Entscheidungsstichwort (Thema)

Arbeitslosenhilfe. Anrechnung fiktiver Unterhaltsansprüche

 

Leitsatz (amtlich)

1. Die Anrechnung eines fiktiven Unterhaltsanspruchs nach § 137 Abs 1a AFG setzt in der Tatbestandsalternative des Unterlassens voraus, daß der Unterhaltsanspruch bei Hinzudenken der unterlassenen Handlungen tatsächlich bestünde und diese arbeitsförderungsrechtlich zumutbar sind.

2. Eine Auslegung des § 137 Abs 1a AFG, die von diesen Voraussetzungen absieht und allein auf das Vorhandensein dem Grunde nach unterhaltspflichtiger Verwandter ersten Grades abhebt, ist mit § 103 Abs 2 AFG und der hierzu ergangenen Zumutbarkeits-Anordnung sowie mit dem Grundsatz der individuellen Arbeitsvermittlung nicht vereinbar und würde insgesamt gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art 3 Abs 1 GG verstoßen.

 

Verfahrensgang

SG Kassel (Urteil vom 30.05.1990; Aktenzeichen S-5/Ar - 832/89)

 

Tenor

I. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 30. Mai 1990 wird zurückgewiesen. Auf die Klage wird der Bescheid vom 15. Dezember 1989 abgeändert und die Beklagte verurteilt, dem Kläger auch für die Zeit ab dem 8. Juli 1989 Arbeitslosenhilfe in gesetzlicher Höhe ohne Anrechnung eines Unterhaltsanspruchs gegen seine Eltern zu gewähren.

II. Die Beklagte hat dem Kläger seine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

III. Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über die Höhe der dem Kläger zustehenden Arbeitslosenhilfe (Alhi), konkret über die Anrechnung fiktiver Unterhaltsansprüche des Klägers gegenüber seinen Eltern für die Zeit ab dem 8. Juli 1989.

Der 1956 geborene Kläger, Vater von vier Kindern, ist von Beruf Diplom-Agraringenieur und war vom 1. November 1987 bis 31. Oktober 1988 im Rahmen einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme als technischer Angestellter beschäftigt. Vom 1. November 1988 bis 1. Mai 1989 bezog der Kläger Arbeitslosengeld. Mit Bescheid vom 10. Mai 1989 bewilligte ihm die Beklagte Alhi für die Zeit vom 2. Mai 1989 bis zum 31. Oktober 1990 in Höhe von DM 268,86 wöchentlich. Diesen Betrag hatte die Beklagte unter Anrechnung eines Unterhaltsanspruches des Klägers gegen seine Eltern in Höhe von insgesamt DM 71,93 wöchentlich errechnet. Daneben bezog der Kläger mit seiner. Familie ergänzend Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem Bundessozialhilfegesetz. Sonstiges Einkommen hat der Kläger auch in der Folgezeit nicht erzielt. Er verfügt auch nicht über zu berücksichtigendes Vermögen. Ein Beratungsgespräch wegen einer Herabstufung in der Vermittelbarkeit hat die Beklagte mit dem Kläger auch in der Folgezeit nicht geführt.

Gegen den Bescheid vom 10. Mai 1989 erhob der Kläger Widerspruch mit der Begründung, dass nach höchstrichterlicher Rechtsprechung eine Anrechnung von Unterhaltsansprüchen in seinem Falle nicht in Betracht komme. Darüber hinaus sei die jetzige Ehefrau seines Vaters bei der Feststellung des Anrechnungsbetrages unberücksichtigt geblieben. Diese verfüge über keinerlei Einkommen.

Mit Änderungsbescheid vom 30. Mai 1989 bewilligte die Beklagte dem Kläger daraufhin Alhi in Höhe von DM 298,86 wöchentlich wobei Unterhaltsansprüche in Höhe von DM 41,95 wöchentlich (gegenüber dem Vater in Höhe von wöchentlich DM 5,28 und gegenüber der Mutter in Höhe von wöchentlich DM 36,67) in Abzug gebracht wurden.

Mit Widerspruchsbescheid vom 8. Juni 1989 wies die Beklagte daraufhin den Widerspruch zurück, soweit sie ihm nicht abgeholfen hatte.

Der hiergegen am 11. Juli 1989 erhobenen Klage gab das Sozialgericht Kassel mit Urteil vom 30. Mai 1990 statt und verurteilte die Beklagte unter Abänderung der angefochtenen Bescheide, dem Kläger ab 2. Mai 1989 Alhi ohne Anrechnung von Einkommen seiner Eltern zu zahlen. Die Berufung hat das Sozialgericht im Tenor seiner Entscheidung zugelassen. In den Entscheidungsgründen führte das Sozialgericht aus, dass die Gewährung von Alhi die Bedürftigkeit des Arbeitslosen zur Voraussetzung habe und diese vorliege, soweit er seinen Lebensunterhalt nicht auf andere Weise als durch Alhi bestreite oder bestreiten könne und das zu berücksichtigende Einkommen die Alhi nicht erreiche. Hierbei seien Unterhaltsansprüche des Arbeitslosen gegen seine Eltern zu berücksichtigen, der Kläger erhalte jedoch von seinen Eltern offensichtlich keine Unterstützungsleistungen und habe gegen diese auch keine Unterhaltsansprüche. Nach dem insoweit maßgeblichen bürgerlichen Recht müsse sich ein Volljähriger, der eine Berufsausbildung abgeschlossen habe, intensiv um jede auch noch so einfache Arbeit bemühen, ehe er seine Eltern auf Unterhalt in Anspruch nehmen könne. Solche Bemühungen habe der Kläger jedoch nicht unternommen, so dass ein Unterhaltsanspruch gegen seine Eltern unabhängig von deren Leistungsfähigkeit entfalle. Die Anrechnung eines fiktiven Unterhaltsanspruches sei unzulässig. Der insoweit einschlägige und am 30. Dezember 1988 in Kraft getretene § 10 Nr. 3 der Arbeitslosenhilfe-Verordnung (Alhi-VO) ändere hieran nichts, da diese Bestimmung von der gesetzlichen Ermächtigu...

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