Entscheidungsstichwort (Thema)
Fiktion eines früheren Überprüfungsantrages im Wege des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs. Beratungspflicht bei Nichtumsetzung höchstrichterlicher Rechtsprechung. anfängliche Rechtswidrigkeit nach geläuterter Rechtsauffassung. Weitergewährung einer befristeten Erwerbsunfähigkeitsrente
Leitsatz (amtlich)
1. Die Beurteilung der Rechtswidrigkeit eines Verwaltungsaktes im Rahmen von § 44 SGB 10 erfordert eine rückschauende Betrachtung der zum Zeitpunkt des Erlasses geltenden Sach- und Rechtslage aus heutiger - dh zum Zeitpunkt der Überprüfung geltender - Sicht (sog geläuterte Rechtsauffassung).
2. Die fehlende Umsetzung gefestigter höchstrichterlicher Rechtsprechung kann bei bestehendem konkreten Anlass die Pflicht des Leistungsträgers zur Spontanberatung aufgrund "vorangegangenen Tuns" begründen.
3. Die Anwendung des § 44 SGB 10 schließt die Herleitung weitergehender Rechtsfolgen auf der Grundlage des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs aus. Insbesondere steht die Fingierung eines früheren Überprüfungsantrags im Rahmen von § 44 Abs 4 SGB 10 über den sozialrechtlichen Herstellungsanspruch nicht im Einklang mit dem Gesetz.
Orientierungssatz
1. Ein Verwaltungsakt ist grundsätzlich auch bei einer Rechtsprechungsänderung anfänglich rechtswidrig im Sinne des § 44 SGB 10 und somit mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen und zwar selbst dann, wenn er bei seinem Erlass noch der seinerzeit geltenden höchstrichterlichen Rechtsprechung entsprochen hat (vgl BSG vom 25.10.1984 - 11 RAz 3/83 = BSGE 57, 209 = SozR 1300 § 44 Nr 13).
2. Der in § 44 Abs 4 SGB 10 manifestierte Wille des Gesetzgebers würde missachtet, wenn letztlich unter denselben Voraussetzungen durch Zuhilfenahme des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs eine Erbringung der vorenthaltenen Leistungen für einen weiter als 4 Jahre zurückliegenden Zeitraum erreicht werden könnte.
3. Zum Leitsatz 1 vgl BSG vom 2.2.2006 - B 10 EG 9/05 R = BSGE 96, 44 = SozR 4-1300 § 27 Nr 2, vom 26.1.1988 - 2 RU 5/87 = BSGE 63, 18 = SozR 1300 § 44 Nr 31 und vom 25.10.1984 - 11 RAz 3/83 aaO.
4. Zum Leitsatz 3 vgl BSG vom 23.7.1986 - 1 RA 31/85 = BSGE 60, 158 = SozR 1300 § 44 Nr 23.
Normenkette
SGB X § 44 Abs. 1 S. 1, Abs. 2, 4 S. 1, § 48 Abs. 2; SGB VI a.F. § 102 Abs. 2, 2 S. 3 HS 2; SGB VI § 300 Abs. 1, §§ 302b, 314b, 100 Abs. 4, § 115 Abs. 5-6; GG Art. 14 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1; SGB I §§ 14-15
Tenor
I. Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Fulda vom 16. August 2012 wird zurückgewiesen.
II. Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten im Rahmen eines Überprüfungsverfahrens nach § 44 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) um die Nachzahlung einer neu berechneten Rente wegen Erwerbsunfähigkeit auch für die Zeit vom 1. April 1994 bis 31. Dezember 2000.
Die Beklagte bewilligte der 1946 geborenen Klägerin auf deren Antrag vom 21. November 1983 ausgehend von einem nach medizinischen Ermittlungen festgestellten halbschichtigen Leistungsvermögen durch Bescheid vom 4. Juni 1985 eine befristete Rente wegen Erwerbsunfähigkeit als Arbeitsmarktrente für die Zeit vom 22. Mai 1984 bis 30. November 1986. Veranlasst durch entsprechende Weiterzahlungsanträge der Klägerin wurde diese Rente jeweils über den im vorherigen Rentenbescheid festgestellten Wegfallzeitpunkt hinaus
- durch Bescheid vom 5. März 1987 bis zum 30. November 1990
- durch Bescheid vom 11. April 1991 bis zum 31. März 1994
- durch Bescheid vom 23. Dezember 1994 bis zum 31. März 1997
- durch Bescheid vom 21. Oktober 1997 bis zum 31. März 2000 und
- durch Bescheid vom 28. Juni 2000 bis zum 31. März 2003
weitergewährt.
Für die Zeit ab 1. Juli 1997 wurde die Erwerbsunfähigkeitsrente durch den Rentenanpassungsbescheid vom 22. Oktober 1997 neu berechnet.
Auf den Widerspruch der Klägerin gegen den Weitergewährungsbescheid vom 28. Juni 2000 änderte die Beklagte diesen Bescheid ab und bewilligte der Klägerin durch Bescheid vom 22. Dezember 2000 nunmehr eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit über den 31. März 2000 hinaus auf Dauer. Diese Dauerrente wurde wegen des Wegfalls des Beitragszuschlags zur Pflegeversicherung für die Zeit ab 1. November 2007 neu berechnet (Bescheid vom 2. November 2007).
Auf den Antrag der Klägerin vom 30. Oktober 2007 bewilligte die Beklagte ihr durch Bescheid vom 20. November 2007 anstelle der bisherigen Erwerbsunfähigkeitsrente eine Altersrente für schwerbehinderte Menschen beginnend ab 1. Oktober 2007. Im Rahmen des sich an diesen Bescheid anschließenden Widerspruchsverfahrens verlegte die Beklagte den Beginn der bewilligten Altersrente für schwerbehinderte Menschen unter Berücksichtigung eines Beratungsfehlers im Rahmen des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs auf den 1. November 2006 vor (Abhilfebescheid vom 22. August 2008).
Mit Schreiben vom 11. September 2009 wandte sich die Klägerin an die Beklagte und bat um Neuberechnung ihrer “Erwerbsminderungsrente auf ...