Entscheidungsstichwort (Thema)
Grenzen der freien Beweiswürdigung. Verletzung der Amtsermittlungspflicht. Erhöhung der Teilrente auf die Vollrente. Absehbarkeit der Einkommenslosigkeit
Leitsatz (amtlich)
Wenn Verletzte seit dem Arbeitsunfall mehr als drei Jahre lang ohne Arbeitseinkommen gewesen sind und sie auch für die Zukunft keinen konkreten, für sie bereitstehenden Arbeitsplatz nachweisen können, dann ist ihr Zustand der Arbeitseinkommenslosigkeit in der Regel nicht mehr als nur vorübergehend zu bewerten, sofern der gesamte Gesundheitszustand, das Alter, die eingeschränkte berufliche Mobilität und die allgemeine Arbeitsmarktlage nicht überwiegend dafür sprechen, daß sie in absehbarer Zeit doch wieder einer Erwerbstätigkeit nachgehen können.
Orientierungssatz
1. Die Frage nach der Absehbarkeit der Einkommenslosigkeit ist nicht gleichzusetzen mit der Frage nach der Vermittlungsfähigkeit des Verletzten durch das Arbeitsamt.
2. Die Absehbarkeit des Zustandes der Arbeitseinkommenslosigkeit ist nicht darauf abzustellen, daß nur derjenige auf nicht absehbare Zeit ohne Arbeitseinkommen ist, der auch bei einer nur theoretisch möglichen Änderung der Arbeitsmarktlage, insbesondere trotz der theoretisch denkbaren Einrichtung eines für ihn geeigneten und offenen Arbeitsplatzes, nicht zu vermitteln sein würde.
Normenkette
SGG §§ 103, 128, 145 Nrn. 3-4, § 150 Nr. 2; RVO § 587 Abs. 1, § 1585 Abs. 1
Verfahrensgang
SG Fulda (Urteil vom 10.04.1979; Aktenzeichen S-3b/U-90/77) |
Tenor
I. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Fulda vom 10. April 1979 abgeändert.
Die Klage gegen den Bescheid der Beklagten vom 23. Februar 1978 wird abgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Erhöhung der dem Kläger als Teilrente gewährten Verletztenrente auf die Vollrente gemäß § 587 Abs. 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO).
Der im Jahre 1924 geborene Kläger war als Facharbeiter bei einem Tief- und Straßenbauunternehmen beschäftigt. Aufgrund eines am 29. April 1975 erlittenen Arbeitsunfalls gewährte die Beklagte ihm mit Bescheid vom 8. Dezember 1976 eine vorläufige Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 50 v.H. für die Zeit vom 12. Juli 1976 bis zum 7. September 1976 und um 40 v.H. für die Zeit ab 8. September 1976. Mit Bescheid vom 14. April 1977 setzte sie die Rente ab 1. Juni 1977 auf 30 v.H. unter gleichzeitiger Feststellung der Dauerrente herab. Als Folgen des Arbeitsunfalls bezeichnete sie:
„In Außendrehstellung fest knöchern durchbauter Oberschenkelbruch rechts; geringe Muskelminderung am rechten Unter- und Oberschenkel bei Muskeldefekt im Adduktorenbereich; ausgedehnte Narben am rechten Oberschenkel sowie Transplantatentnahme an der Streckseite des linken Oberschenkels.”
Zugleich entschied sie, die Herzbeschwerden und peripheren Durchblutungsstörungen sowie das Schulter-Arm-Syndrom mit Epicondylitis rechter Ellenbogen ständen nicht in ursächlichem Zusammenhang mit dem Arbeitsunfall. Den am 29. Dezember 1976 gegen den Bescheid vom 8. Dezember 1976 eingelegten Widerspruch des Klägers wies die Beklagte unter Einbeziehung des Dauerrentenbescheides vom 14. April 1977 mit Widerspruchsbescheid vom 21. Juli 1977 zurück.
Gegen diesen am 22. Juli 1977 zur Post gegebenen Bescheid hat der Kläger am 15. August 1977 Klage bei dem Sozialgericht Fulda (SG) erhoben (S-3b/U-90/77).
Da der Kläger nicht mehr in der Lage war, seine zuletzt ausgeübte Erwerbstätigkeit als Maschinenführer fortzusetzen, kündigte sein Arbeitgeber das Arbeitsverhältnis am 15. Juli 1976 zum 20. August 1976. Auf Aufforderung der Beklagten meldete sich der Kläger am 23. August 1976 beim Arbeitsamt B. H. arbeitslos. Er bezog seitdem Arbeitslosengeld und im Anschluß daran Arbeitslosenhilfe. Das Versorgungsamt F. erkannte bei ihm mit Bescheid vom 17. März 1978 eine MdE von 60 v.H. nach § 3 des Schwerbehindertengesetzes (SchwbG) an und stellte als Behinderungen fest:
„In Außendrehstellung fest knöchern durchbauter Oberschenkelbruch rechts, geringe Muskelminderung am rechten Unter- und Oberschenkel bei Muskeldefekt im Adduktorenbereich, ausgedehnte Narben am rechten Oberschenkel sowie nach Transplantatentnahme an der Streckseite des linken Unterschenkels, mittelgradige Innenohrschwerhörigkeit beiderseits, Arthrose des rechten Ellenbogengelenkes und beider Hüft- und Kniegelenke, Hals- und Lendenwirbelsäulensyndrom sowie Blutdruckerniedrigung mit Kreislaufstörungen.”
Nachdem das Arbeitsamt B. H. (AA) der Beklagten unter dem 21. Dezember 1977 mitgeteilt hatte, daß die Vermittlungsaussichten für den Kläger auch im Hinblick darauf, daß er inzwischen durch das Versorgungsamt F. als Schwerbehinderter anerkannt worden sei, weiterhin ungünstig erschienen und man aufgrund des erheblich eingeschränkten Leistungsvermögens nicht absehen könne, ob und ggfs. wann es nochmals möglich sein werde, den Kläger wieder beruflich einzugliedern, lehnte die Beklagte eine Erhöhung ...