Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Berufung des Beklagten. Verurteilung des Beigeladenen zur Leistungserbringung. Grundsicherung für Arbeitsuchende. Leistungsausschluss für Ausländer ohne Aufenthaltsrecht bzw bei Aufenthalt zur Arbeitsuche. Aufenthaltsrecht als Arbeitnehmer. Aufrechterhaltung des Arbeitnehmerstatus. Aufenthaltsrecht als sorgeberechtigter Elternteil eines Unionsbürgers. Sozialhilfe. Überbrückungsleistungen. Ausreisewille
Leitsatz (amtlich)
1. Ein Beigeladener kann in der Berufungsinstanz auf Grund einer sogenannten unechten notwendigen Beiladung (§ 75 Abs 2 Alt 2, Abs 5 SGG) auch dann zur Leistung an den Leistungsberechtigten verurteilt werden, wenn nur der Beklagte gegen seine erstinstanzliche Verurteilung Berufung eingelegt hat.
2. Zur Aufrechterhaltung des Arbeitnehmerstatus nach § 2 Abs 3 FreizügG/EU (juris: FreizügG/EU 2004) während Zeiten der Arbeitsunfähigkeit und des Bezugs von Arbeitslosengeld nach dem SGB III.
3. Zum Anspruch auf Arbeitslosengeld II beim Vorliegen eines anderen materiellen Aufenthaltsrechts als dem zur Arbeitsuche (im konkreten Fall abgelehnt für die sorgeberechtigte Mutter eines Kindes mit Staatsbürgerschaft eines anderen EU-Mitgliedstaats).
4. Der Anspruch auf Überbrückungsleistungen nach § 23 Abs 3 S 3 SGB XII setzt einen Ausreisewillen des Leistungsberechtigten nicht voraus.
Tenor
I. Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 22. Oktober 2020 abgeändert, soweit das Sozialgericht den Beklagten unter Aufhebung von dessen Bescheid vom 30. Januar 2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. Juni 2019 zu Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende an die Klägerin zu 2. verurteilt hat. Insoweit wird die Klage gegen den Beklagten abgewiesen; die Beigeladene wird verurteilt, der Klägerin zu 2. für die Zeit vom 1. Januar bis zum 12. Mai 2018 Überbrückungsleistungen nach § 23 Abs. 3 Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch zu gewähren.
Im Übrigen wird die Berufung des Beklagten mit der Maßgabe, dass dem Kläger zu 4. ein Anspruch auf Leistungen erst ab dem 4. Februar 2018 zusteht, zurückgewiesen.
II. Der Beklagte hat den Klägern zu 1., 3. und 4., die Beigeladene der Klägerin zu 2. die zur Rechtsverfolgung notwendigen Kosten zu erstatten.
III. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um existenzsichernde Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für die Zeit vom 1. Januar bis zum 12. Mai 2018.
Der Kläger zu 1., geboren 1983, und die Klägerin zu 2., geboren 1986, sind die Eltern des 2016 geborenen Klägers zu 3. und des 2018, also im Laufe des Streitzeitraums, geborenen Klägers zu 4. Alle Kläger sind - oder waren jedenfalls im Streitzeitraum - rumänische Staatsangehörige. Sie wohnten gemeinsam in einer Wohnung im C-Straße, B-Stadt.
Der Kläger zu 1. war vom 23. April 2012 bis zum 9. Juni 2012, vom 23. August 2013 bis zum 7. Oktober 2013, vom 2. Juni 2014 bis zum 16. Juli 2014 und vom 12. Juni 2015 bis zum 31. Juli 2015 bei der Fa. F. GmbH in C-Stadt (vgl. Bl. 153-156 der Gerichtsakte S 7 AS 148/17 ER) und vom 1. September 2015 bis zum 8. September 2015 bei der Fa. G. GmbH in B-Stadt (vgl. Bl. 247 der Gerichtsakte S 7 AS 148/17 ER) beschäftigt. Am 10. Mai 2016 nahm er eine Beschäftigung auf geringfügiger Basis bei der Fa. H. GmbH, B-Stadt, als Hilfskraft zu einem Stundenlohn von 8,50 Euro auf. Nach Kündigung dieses Arbeitsverhältnisses durch den Arbeitgeber zum 12. Oktober 2016 war er (schon) ab dem 4. Oktober 2016 bei der Fa. I. GmbH, B-Stadt, befristet bis 30. September 2017, als Be- und Entladehelfer mit einer durchschnittlichen wöchentlichen Arbeitszeit von 20 Stunden zu einem Stundenlohn von 8,50 Euro beschäftigt. Ab dem 16. Januar 2017 war er arbeitsunfähig erkrankt. Die Fa. I. GmbH kündigte das Arbeitsverhältnis mit Schreiben vom 24. Januar 2017 zum 9. Februar 2017, wobei die Bundesagentur für Arbeit mit einem an den Beklagten gerichteten Schreiben vom 13. September 2017 bestätigte, dass die Arbeitslosigkeit unfreiwillig eingetreten sei (vgl. Bl. 109 der Gerichtsakte S 7 AS 148/17 ER).
Der Kläger zu 1. nahm anschließend - bis zum Ende des streitigen Zeitraums - keine Beschäftigung mehr auf. Dabei liegen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen aus dem Jahre 2017 sowie für folgende Zeiträume vor: vom 11. Januar 2018 bis 19. Januar 2018, 19. Januar 2018 bis 2. Februar 2018, 2. Februar 2018 bis 16. Februar 2018, 19. Februar 2018 bis 16. März 2018 und 16. März 2018 bis 13. April 2018 (vgl. u.a. Bl. 54 ff. der Gerichtsakte S 7 AS 148/17 ER sowie Dokumente Nr. 12, 17, 20, 22 und 26 der elektronisch übermittelten Akten der Agentur für Arbeit Kassel - im Folgenden: eLA AA Dok.-Nr. -); die AOK Hessen hat Zeiten der Arbeitsunfähigkeit des Klägers zu 1. (unter anderem) durchgängig vom 11. Januar bis zum 13. April 2018 bestätigt (Gerichtsakte zum hiesigen Verfahren - im Folgenden: GA - Bl. 152; auf die Bestätigung wird, ebenso wie auf die übrigen mit Aktenfundstelle aufgeführten Dokumente, wegen der Einzelheit...