Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialversicherungspflicht bzw -freiheit. Lohnbuchhalter bei einem Steuerberater. Vertrag über freie Mitarbeit. umsatzabhängige Bezahlung. Weisungsfreiheit. mehrere Auftraggeber. bisherige Erwerbsbiografie. abhängige Beschäftigung. selbstständige Tätigkeit
Orientierungssatz
1. Zur sozialversicherungsrechtlichen Beurteilung einer Tätigkeit als Lohnbuchhalter bei einem Steuerberater auf der Basis eines Vertrags über freie Mitarbeit (hier: selbstständige Tätigkeit).
2. In Fällen, in denen weder die tatsächliche Ausgestaltung der Beschäftigung noch die vertraglichen Vereinbarungen ausreichen, entweder eine abhängige Beschäftigung oder eine selbständige Tätigkeit anzunehmen, kann aus dem bisherigen Status im Erwerbsleben auf den Willen des Beschäftigten eher dahin geschlossen werden, diesen Status nicht zu verändern. Das bisherige Berufsleben dient dann ausnahmsweise als Indiz dafür, was der Beschäftigte gewollt hat (vgl BSG vom 24.10.1978 - 12 RK 58/76 = SozR 2200 § 1227 Nr 19).
Tenor
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 29. September 2022 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte trägt die Kosten auch des Berufungsverfahren mit Ausnahme der Kosten der Beigeladenen.
Die Revision wird zugelassen.
Der Streitwert wird auf 5.000,- € festgesetzt.
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Beigeladene zu 1.) in seiner Tätigkeit als Lohnbuchhalter bei dem Kläger in der Zeit vom 01.01.2018 bis 31.12.2018 in einem abhängigen und damit sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis stand.
Der 1959 geborene Beigeladene zu 1.) hat den Beruf des Steuerfachgehilfen erlernt. Seit 1984 hat er ein Gewerbe für „Buchführungsservice“ angemeldet und ist seitdem selbstständig tätig sowie privat kranken- und rentenversichert. Der Beigeladene zu 1.) erledigt überwiegend Lohnbuchhaltungsarbeiten für kleine Unternehmen oder für die Mandanten verschiedener Steuerberater. Der Kläger ist freiberuflicher Steuerberater. Er hat zum 01.01.2018 den Mandantenstamm der Steuerberaterin E., für die der Beigeladene zu 1.) zuvor tätig war, übernommen. Der sozialversicherungsrechtliche Status des Beigeladenen zu 1.) im Verhältnis zur Steuerberaterin E. bis 31.12.2017 ist ebenfalls streitig; ein Berufungsverfahren ist beim Landessozialgericht Mecklenburg-Vorpommern anhängig (L 4 BA 10/22).
Der Beigeladene zu 1.) und der Kläger stellten bei der Beklagten am 06.07.2018 gemeinsam einen Antrag auf Feststellung des sozialversicherungsrechtlichen Status für die Tätigkeit des Beigeladenen zu 1.) als „Sachbearbeiter Lohn“ [Statusanfrage nach § 7a Abs. 1 Satz 1 Viertes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IV)]. Vorgelegt wurde u.a. ein Vertrag über freie Mitarbeit vom 02.01.2018. Der Vertrag enthielt u.a. die folgenden Regelungen:
„§ 1 Vertragsgegenstand, Auftragsumfang, Haftung
(1) Der Auftraggeber erteilt dem Auftragnehmer mit Wirkung ab 01.01.2018 folgenden Auftrag:
Selbständige Bearbeitung und Erstellung der laufenden Lohnabrechnungen (inkl. der Vorbereitung von Lohnsteueranmeldungen, der Erstellung von Meldungen zur Sozialversicherung und Anträgen nach dem AAG, Unterstützung bei der Führung von Lohnkonten, Bereitstellung von Auswertungen für die Mandanten und gegenüber betroffenen Institutionen).
(2) Die zu erbringenden Leistungen sind den individuellen Anforderungen der jeweiligen Mandate im Einzelfall anzupassen.
(3) Darüber hinaus werden durch den Auftragnehmer Rückfragen und Anfragen der Mandanten des Auftraggebers selbständig bearbeitet. [...]
(6) Der Auftrag entsprechend dem vorgenannten Umfang wird zunächst für die in der Anlage aufgeführten Mandanten erteilt.
(7) Zusätzliche Aufträge können nur nach einvernehmlicher Absprache zwischen den Vertragsparteien auf den Auftragnehmer übertragen werden. Die Absprache kann auch mündlich erfolgen. Der Auftragnehmer kann die Annahme zusätzlicher Aufträge ohne Angabe von Gründen ablehnen. [...]
§ 2 Weisungsfreiheit, Auftragserfüllung, Status
(1) Die Vertragsparteien sind sich darüber einig, dass durch diese Vereinbarung zwischen ihnen kein Arbeitsverhältnis i.S.d. § 611a BGB entstehen soll. Insbesondere unterliegt der Auftragnehmer bei der Durchführung der übertragenen Tätigkeiten keinen Weisungen des Auftraggebers. Gegenüber Angestellten des Auftraggebers hat der Auftragnehmer keine Weisungsbefugnis.
(2) Der Auftragnehmer ist konkret in der örtlichen und zeitlichen Disposition sowie in der Art und Weise seiner Auftragsdurchführung frei. [...]
(3) Der Auftragnehmer hat die Leistungen nicht in Person zu erbringen. Er kann sich zur Erfüllung des Auftrags auch anderer Personen bedienen. [...]
§ 3 Vergütung
(1) Als Vergütung vereinbaren die Vertragsparteien ein monatliches Pauschalhonorar in Höhe von 35% des Nettoumsatzes, den der Auftraggeber mit den vom Auftragnehmer zu bearbeitenden Aufträgen erzielt. [...]'
§ 5 Konkurrenz
(1) Der Auftragnehmer darf und soll auch für andere Auftraggeber tätig sein und erklärt, dass er bei Aufnahme dieser selbständigen Tätigkeit m...