Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankenversicherung. Hilfsmittel. kein Anspruch eines behinderten Kindes auf ein Speedy-Tandem zum Erschließen eines gewissen körperlichen Freiraums. keine Integration in den Kreis Gleichaltriger. Verfassungsmäßigkeit. Völkerrechts- und EU-Rechtskonformität
Orientierungssatz
1. Ein Speedy-Tandem ist für einen zwölfjähriges Kind, das aufgrund einer spastischen Cerebralparese auf den Rollstuhl angewiesen ist, als Hilfsmittel zur Teilnahme an Aktivitäten anderer Kinder und damit zur Integration in der Gruppe Gleichaltriger nicht geeignet.
2. Der geltend gemachte Anspruch ist nicht gem Art 6 Abs 1 GG begründet, da dem Gesetzgeber hinsichtlich der Art und Weise der Familienförderung ein weiter Gestaltungsspielraum zusteht.
3. Der Versicherte kann sich auch nicht mit Erfolg auf das "Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen" (UN-Konvention, juris: UNBehRÜbk) berufen, da aus der UN-Konvention keine über § 33 SGB 5 hinausgehenden Leistungsansprüche hergeleitet werden können (vgl BSG vom 18.5.2011 - B 3 KR 10/10 R = SozR 4-2500 § 33 Nr 35). Nichts anderes gilt für die Grundrechtscharta der Europäischen Union (juris: EUGrdRCh).
Normenkette
SGB V § 33 Abs. 1 S. 1; SGB IX § 31; GG Art. 6 Abs. 1
Tenor
Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Gießen vom 16. März 2010 wird zurückgewiesen.
Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Beklagte die Kosten für ein Speedy-Tandem übernehmen muss.
Der im Jahr 2000 geborene Kläger ist aufgrund einer spastischen Cerebralparese auf den Rollstuhl angewiesen. Er ist mit einem Aktivrollstuhl sowie zahlreichen weiteren Hilfsmitteln ausgestattet. Unter dem 29. Januar 2008 verordnete die Kinder- und Jugendärztin Dr. QQ. dem Kläger zur Verbesserung und Erhaltung der Mobilität sowie zum Erreichen und Sichern der sozialen Integration ein Speedy-Tandem. Hierbei handelt es sich um ein eigenständiges Fahrrad, welches als Rollstuhlzuggerät vor einen Selbstfahrerrollstuhl gekoppelt werden kann. Durch die eigenständige Nutzbarkeit des Fahrrads unterscheidet es sich von einem Rollfiets, welches aus einer Rollstuhl-Fahrrad-Kombination besteht, bei welchem ein Fahrradteil (ohne Vorderrad) hinter einen Selbstfahrerrollstuhl gekoppelt wird. Nach dem an die Beklagte gerichteten Kostenvoranschlag vom 6. Februar 2008 der Fa. XY. Reha-Technik betragen die Kosten für ein Speedy-Tandem (Grundausstattung) 3.684,24 €.
Die Beklagte leitete den Kostenübernahmeantrag an den zuständigen Sozialleistungsträger weiter, welcher den Antrag gemäß §§ 53 ff. Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII) mit Bescheid vom 30. April 2008 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. Oktober 2008 unter Hinweis auf die überschrittenen Einkommensgrenzen ablehnte. Dieser Bescheid wurde bestandskräftig.
Mit Bescheid vom 3. Februar 2009 lehnte auch die Beklagte die Kostenübernahme ab. Zur Begründung führte sie an, dass das begehrte Hilfsmittel zur Teilnahme an Aktivitäten anderer Kinder und damit zur Integration in der Gruppe Gleichaltriger nicht geeignet sei. Im Übrigen werde die Fortbewegung im Nahbereich durch die bereits gewährten Hilfsmittel sichergestellt. Den hiergegen eingelegten Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 19. März 2009 zurück. Das Fahrradfahren gehöre nicht zu den Grundbedürfnissen, für deren Sicherstellung die Krankenkasse einzutreten habe. Eine soziale Einbindung in eine Gruppe gleichaltriger Kinder sei durch das Hilfsmittel nicht zu erreichen.
Hiergegen hat der Kläger beim Sozialgericht Gießen Klage erhoben.
Mit Gerichtsbescheid vom 16. März 2010 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Das Speedy-Tandem sei zur Sicherung des Erfolges der Krankenbehandlung nicht erforderlich. Krankengymnastik könne gezielter und vielseitiger die angestrebten Verbesserungen der körperlichen und seelischen Verfassung eines behinderten Menschen erreichen. Auch zum Behinderungsausgleich sei die Versorgung nicht erforderlich. Insbesondere sei das Hilfsmittel nicht zur Integration des Klägers geeignet. Denn die Anwesenheit einer erwachsenen Begleitperson werde üblicherweise von Jugendlichen nicht akzeptiert. Das Hilfsmittel diene vorrangig der Durchführung gemeinsamer Fahrradausflüge. Hierin könne kein anzuerkennendes Grundbedürfnis gesehen werden, zumal der Kläger jedenfalls durch den täglichen Besuch der Behindertenschule gute Möglichkeiten der sozialen Integration und Kommunikation habe und die Fahrradausflüge für die soziale Integration des Klägers von untergeordneter Bedeutung seien. Die Voraussetzungen für die Einholung eines Gutachtens nach § 109 Sozialgesetzbuch (SGG) lägen nicht vor, da die entscheidende Frage der Akzeptanz einer Begleitperson durch Gleichaltrige keine Tatsache sei, die durch ein ärztliches Sachverständigengutachten bewiesen werden könne.
Der Kläger hat gegen den ihm am 25. März 2010 zugestellt...