Sachverhalt
Bei dem Verfahren ging es um die Frage, ob die in Italien erhobene Regionalsteuer auf Produktivtätigkeiten (IRAP) als Abgabe mit Mehrwertsteuercharakter gegen Artikel 33 der 6. EG-Richtlinie verstößt.
Die IRAP ist eine Regionalsteuer, die generell auf alle gewerblichen Tätigkeiten angewendet wird, die die Erzeugung bzw. Erbringung oder den Austausch von Gegenständen oder Dienstleistungen zum Gegenstand haben, die bei der gewohnheitsmäßigen Ausübung einer zu diesem Zweck geleisteten Tätigkeit geschaffen werden, d.h. beim Betrieb von Unternehmen oder der Ausübung von Handwerken oder anderen Berufen (Artikel 2 des Decreto legislativo Nr. 446 vom 15. Dezember 1997 zur Einführung der IRAP). Nach den Feststellungen des Vorlagegerichts bestand insoweit eine Übereinstimmung zwischen der "Steuergrundlage" der IRAP und dem Kreis der "steuerbaren Umsätze" i.S.v. Artikel 1 des italienischen Dekrets zur Einführung der Mehrwertsteuer.
Nach Artikel 4 Abs. 1 des vorgenannten Dekrets zur Einführung der IRAP wird mit der IRAP der Nettomehrwert aus der Produktivtätigkeit besteuert. Die Besteuerungsgrundlage ergibt sich aus dem Erlös der Verkäufe abzüglich der Kosten für den Erwerb des "Verkauften". Bei der IRAP hätte es sich folglich um eine Art Mehrwertsteuer mit Vorumsatzabzug handeln können. Die Abgabe wird auch auf jeder Stufe des Erzeugungs- oder Vertriebsprozesses erhoben.
Das Vorlagegericht war der Auffassung, dass die IRAP in großen Teilen der italienischen Mehrwertsteuer gleicht, die sich hinsichtlich der Systematik nur dadurch von der Mehrwertsteuer unterscheide, dass bei der Steuerberechnung an die Stelle eines Vorsteuerabzugs ein Vorumsatzabzug tritt.
Der Verfahrensgang dieses Rechtstreits beim EuGH war höchst ungewöhnlich. Es fanden zwei mündliche Verhandlungen statt und es wurden zweimal Schlussanträge in der Sache verkündet. Dies ergab sich offensichtlich nicht zuletzt aus dem hohen finanziellen Risiko des Falles für den italienischen Staat, der mit ca. 120 Mrd. € beziffert wurde.
Entscheidung
Der EuGH hat - wohl für alle Beteiligten überraschend - geurteilt, dass die IRAP nicht gegen Artikel 33 der 6. EG-Richtlinie verstößt. Damit können die betroffenen Unternehmen keine Rückerstattungsansprüche an den italienischen Staat geltend machen. Das Urteil ist in zweierlei Hinsicht überraschend. In beiden Schlussanträgen waren die Generalanwälte im Prinzip zu dem Ergebnis gekommen, die IRAP sei eine nach Artikel 33 der 6. EG-Richtlinie unzulässige Abgabe mit Umsatzsteuercharakter. Die Generalanwältin Stix-Hackl war nur etwas zurückhaltender als Generalanwalt Jacobs in seinen ersten Schlussanträgen. Sie ging davon aus, dass die IRAP dann eine unzulässige Umsatzsteuer ist, wenn das Verhältnis zwischen der Umsatzsteuer und der IRAP für eine repräsentative Auswahl von Unternehmen, die beiden Steuerarten unterliegen, im wesentlichen gleich bleibend sei. Dies solle vom Vorlagegericht, nicht vom EuGH, geprüft werden.
Der EuGH hat entgegen den zwei Schlussanträgen quasi durch entschieden und geurteilt, die IRAP ist keine Abgabe mit Umsatzsteuercharakter. Hierzu geht er wie in früheren Entscheidungen zu Artikel 33 der 6. EG-Richtlinie von seinem Prüfschema aus. Der EuGH verweist auf die wesentlichen Merkmale, die eine Mehrwertsteuer als solche aufweisen muss:
- Allgemeine Geltung der Steuer für alle sich auf Gegenstände und Dienstleistungen beziehenden Geschäfte,
- Festsetzung ihrer Höhe proportional zum Preis, den der leistende Unternehmer als Gegenleistung erhält,
- Erhebung der Steuer auf jeder Produktions- und Vertriebsstufe einschließlich der Einzelhandelsstufe, ungeachtet der Zahl der vorher bewirkten Umsätze,
- Abzug der auf den vorhergehenden Stufen bereits entrichteten Beträge der von dem leistenden Unternehmer geschuldeten Steuer, so dass sich die Steuer auf einer bestimmten Stufe nur auf den auf dieser Stufe vorhandenen Mehrwert bezieht und die Belastung letztlich vom Verbraucher getragen wird.
Für den EuGH sind bei der IRAP das zweite und das vierte der vorgenannten Merkmale nicht erfüllt. Die IRAP sei im Gegensatz zur Mehrwertsteuer, die für jeden einzelnen Umsatz auf der Absatzstufe erhoben wird und deren Höhe proportional zum Preis der gelieferten Gegenstände oder erbrachten Dienstleistungen ist, eine Steuer auf den Nettowert der Produktion des Unternehmens im Laufe eines bestimmten Zeitraums. Ihre Bemessungsgrundlage entspreche der aus der Gewinn- und Verlustrechnung hervorgehenden Differenz zwischen den "betrieblichen Erträgen" und den "betrieblichen Aufwendungen" nach ihrer jeweiligen Definition im italienischen Recht. Sie umfasse Bestandteile wie Veränderungen der Lagerbestände, Abschreibungen und Wertminderungen, die in keinem unmittelbaren Zusammenhang mit der Lieferung von Gegenständen oder der Erbringung von Dienstleistungen an sich stünden. Unter diesen Umständen könne die IRAP nicht als proportional zum Preis der gelieferten Gegenstände oder erbrachten Dienstleistungen angesehen werden.
Während die Mehrwer...