Rz. 37
Abs. 1 Satz 2 HS 1 ermächtigt den Verordnungsgeber, solche Erkrankungen in die Liste aufzunehmen, die nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft durch besondere Einwirkungen verursacht sind, denen bestimmte Personengruppen durch ihre Arbeit in erheblich höherem Grade als die übrige Bevölkerung ausgesetzt sind.
Rz. 38
Dass nicht jedes beruflich (mit)bedingte Leiden generalklauselartig zur Berufskrankheit erklärt werden kann (Berufskrankheiten sind alle Krankheiten, die durch berufliche Beschäftigung verursacht sind), liegt an der "Komplexität eines multifaktoriellen Gefährdungsspektrums" (Koch, in: Lauterbach, UV, Vor § 9 Rz. 3); denn nur bei Arbeitsunfällen existiert typischerweise eine enge Raum-Zeit-Beziehung zwischen versicherter Tätigkeit, Unfall und Gesundheitsschaden. Dagegen beruhen Berufskrankheiten überwiegend auf langwierigen, allmählichen Entwicklungsprozessen, für die vielfältige Ursachen verantwortlich sein können. Jeder Mensch unterliegt im Lebenszyklus unterschiedlich krankmachenden Einflüssen, wie genetischen Dispositionen, schicksalhaften Krankheitsanlagen, physiologischen Alters- und Verschleißerscheinungen, Umweltfaktoren, Folgen der persönlichen Lebensführung und Einwirkungen des Arbeitslebens. Dabei lassen sich berufliche und außerberufliche Ursachen nicht immer zuverlässig voneinander trennen. Ursache-Wirkungs-Beziehungen lassen sich häufig nur statistisch in epidemiologischen Verfahren aufdecken, wobei die statistische Signifikanz, die Stärke der Assoziation, die biologische Plausibilität und die Konsistenz der Ergebnisse verschiedener Studien zu bewerten und abzuwägen sind (Koch, in: Lauterbach, UV, § 9 Rz. 264; ders., in: Schulin, Handbuch des Sozialversicherungsrechts, Bd. 2 Unfallversicherungsrecht, § 37 Rz. 6; vgl. etwa die Kriterien der International Agency for Research of Cancer [IARC]). Dieser komplexe Abwägungs- und Bewertungsprozess erfordert schon aus Gründen der Rechtssicherheit und der Gleichbehandlung eine verbindliche Anerkennung solcher Krankheiten, bei denen ein Zusammenhang mit bestimmten Berufstätigkeiten bzw. beruflich bedingten schädigenden Einwirkungen generell als erwiesen angesehen wird (BSG, Urteil v. 26.2.1992, 9a RV 4/91; Mehrtens/Brandenburg, E § 9 SGB VII Rz. 7).
Rz. 39
Dieses Anerkennungsverfahren hat der Verordnungsgeber durchzuführen und die Berufskrankheiten in der Anlage zur BKV aufzulisten (§ 1 BKV). Als Rechtsverordnung kann die BKV dem Fortschritt der medizinischen Wissenschaft in aller Regel schneller angepasst werden als das SGB VII im Gesetzgebungsverfahren. Daher entscheidet die Bundesregierung (Verordnungsgeber) mit Zustimmung des Bundesrates (Art. 80 Abs. 2 GG) darüber, ob eine bestimmte Erkrankung in der gesetzlichen Unfallversicherung entschädigungswürdig ist. Dies ist mit Art. 80 Abs. 1 GG vereinbar (BSG, Urteil v. 18.3.2003, B 2 U 13/02 R; Becker, in: Brackmann, SGB VII, § 9 Rz. 43; Koch, in: Lauterbach, UV, § 9 Rz. 176).
Rz. 40
Für die Bezeichnung einer Krankheit als Listen-Berufskrankheit ergibt sich folgendes Prüfungsschema:
- Besondere Einwirkungen,
- Ausgangsgruppe,
- erheblich höherer Einwirkungsgrad gegenüber der Vergleichsgruppe,
- Krankheit,
- genereller Ursachenzusammenhang zwischen 2. und 4.,
- nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft,
- eventuelle Listenvorbehalte,
- Rechtsfolge: Ermessen.
2.2.1 Besondere Einwirkungen
Rz. 41
Es muss sich um "besondere" Einwirkungen handeln, die nach Art (Qualität) oder nach Intensität und Dauer (Quantität) über allgemein übliche Einwirkungen hinausgehen, die innerhalb und außerhalb der Arbeitswelt (natürlicherweise) vorhanden sind (Kater/Leube, SGB VII, § 9 Rz. 62; Mehrtens/Brandenburg, E § 9 SGB VII Rz. 8.1). Besondere Belastungen liegen aber auch vor, wenn der Versicherte natürlichen Einwirkungen (z. B. Sonnenstrahlen) infolge der versicherten Tätigkeit intensiver, häufiger oder länger ausgesetzt ist als im täglichen Leben. Einwirkungen sind alle Umstände, die von außen auf die Gesundheit des Menschen wirken. Der Einwirkungsbegriff ist weit auszulegen (Becker, in: Brackmann, SGB VII, § 9 Rz. 49; Kater/Leube, SGB VII, § 9 Rz. 62; Mehrtens/Brandenburg, E § 9 SGB VII Rz. 8.1; Ricke, in: Kasseler Kommentar, SGB VII, § 9 Rz. 9). Er umfasst chemische Substanzen (Metalle und Metalloide, Gase, Lösemittel), Körper- und Zwangshaltungen sowie andere mechanische Belastungen, Erschütterungen und Vibrationen, Druckluft, Lärm, Strahlen, Infektionserreger, Stäube und auch psychische Belastungen. Unerheblich ist, ob der Versicherte die Einwirkungen spürt (Becker, in: Brackmann, SGB VII, § 9 Rz. 49). Ein Nichts oder ein bloßer Mangel sind jedoch keine Einwirkungen, und sei es auch nur in psychischer Form, auf den Körper eines Menschen oder auf eine Gruppe (BSG, Urteil v. 27.4.2010, 2 U 13/09 R).
2.2.2 Ausgangsgruppe
Rz. 42
Aus der Allgemeinbevölkerung ist zunächst eine bestimmte Personengruppe herauszufiltern. Die Mitglieder dieser Ausgangsgruppe müssen aus mindestens 3 Einzelpersonen bestehen, aber keinen gemeinsamen Beruf ausüben (Becker, in: Bra...