Leitsatz
Zu der Frage, ob Art. 14 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Satz 2 GG eine absolute Obergrenze in der Nähe einer hälftigen Teilung ("Halbteilungsgrundsatz") für die Belastung mit ESt und GewSt bestimmt.
Normenkette
Art. 14 Abs. 1 und 2, Art. 2 Abs. 1, Art. 20 Abs. 3, Art. 19 Abs. 4 GG
Sachverhalt
Ein Gewerbetreibender wurde im Jahr 1994 zusammen mit seiner Ehefrau zur ESt veranlagt. Das FA setzte auf der Grundlage eines zu versteuernden Einkommens von 622.878 DM die ESt auf 260.262 DM fest. Die von der Gemeinde festgesetzte Gewerbesteuerschuld betrug 112.836 DM. Die Eheleute wandten sich gegen den Einkommensteuerbescheid mit dem Vorbringen, die Festsetzung der ESt und GewSt verstoße gegen den vom BVerfG ausgesprochenen "Halbteilungsgrundsatz", da die Gesamtbelas?tung des Einkommens mit Steuern über 50 % liege (57,58 %). Einspruch und Klage blieben erfolglos. Die gegen das Urteil des FG eingelegte Revision wies der BFH als unbegründet zurück.
Entscheidung
Das BVerfG wies die gegen das BFH-Urteil gerichtete Verfassungsbeschwerde als unbegründet zurück.
Der BFH habe zutreffend angenommen, dass sich dem Beschluss des Zweiten Senats des BVerfG vom 22.6.1995 keine verbindliche verfassungsrechtliche Obergrenze für die Gesamtbe?lastung mit ESt und GewSt entnehmen lasse. Die Steuerbelastung falle zwar in den Schutzbereich der Eigentumsgarantie. Im Streitfall sei der Zugriff auf das Eigentum jedoch verfassungsrechtlich gerechtfertigt. Aus dem Eigentumsrecht lasse sich keine allgemein verbindliche, absolute Be?lastungsobergrenze in der Nähe einer hälftigen Teilung ("Halbteilungsgrundsatz") ableiten.
Hinweis
1. Mit dieser Entscheidung hat das BVerfG eine mehr als zehn Jahre andauernde – teilweise heftig geführte – Diskussion über den sog. Halbteilungsgrundsatz beendet. Dieser Grundsatz, den ebenfalls der Zweite Senat des BVerfG (allerdings in anderer Besetzung) in seinem Beschluss vom 22.6.1995 (2 BvL 37/91, BStBl II 1995, 655) aufgestellt hatte, war in der Fachwelt und in der interessierten Öffentlichkeit überwiegend positiv begrüßt worden. Mit überwiegend ablehnender Kritik wurde hingegen das dem vorliegenden Verfahren zugrunde liegende Urteil des BFH vom 11.8.1999 (XI R 77/97, BStBl II 1999, 771) aufgenommen, in dem dieser sich nicht an die Entscheidung des BVerfG gebunden hielt und dessen Auffassung widersprach, dass sich aus Art. 14 GG das verfassungsrechtliche Gebot einer höchstens hälftigen Teilung des erzielten Einkommens zwischen dem Steuerpflichtigen und dem Fiskus ableiten lasse. Mit der Besprechungsentscheidung hat der Zweite Senat des BVerfG nun das Urteil des BFH bestätigt und sich damit selbst korrigiert.
2. Das BVerfG hat zwar ausdrücklich nur für die Belastung mit ESt und GewSt eine Belastungsobergrenze i.S. einer Halbteilung abgelehnt und dabei betont, dass es in seiner früheren Entscheidung allein um die Grenze der Gesamtbelastung des Vermögens durch eine neben der ESt erhobene Vermögensteuer gegangen sei. Dennoch kann davon ausgegangen werden, dass die "Abschaffung" des Halbteilungsgrundsatzes für sämtliche Steuerbelastungen Geltung hat. In der früheren Entscheidung zur Vermögen?steuer ist der Halbteilungsgrundsatz allein aus Art. 14 GG abgeleitet worden. In der jetzigen Entscheidung hält das BVerfG aber gerade dies nicht für zulässig. Der Wortlaut des Art. 14 Abs. 2 Satz 2 GG, nach dem der Gebrauch des Eigentums "zugleich" dem Wohle der Allgemeinheit dienen solle, reiche zur Begründung einer solchen Höchstbelastungsgrenze nicht aus. Damit ist alles gesagt.
3. Zu beachten ist, dass das BVerfG im Besprechungsbeschluss erstmals ausgesprochen hat, dass die Steuerbelastung grundsätzlich in den Schutzbereich der Eigentumsgarantie des Art. 14 GG fällt. Bislang war der Erste Senat des BVerfG stets davon ausgegangen, dass das Eigentumsrecht erst dann berührt wird, wenn die Geldleistungspflichten den Steuerpflichtigen übermäßig belasten und seine Vermögensverhältnisse so grundlegend beeinträchtigen, dass sie eine erdrosselnde Wirkung haben (BVerfG, Beschluss vom 18.4.1997, 1 BvR 48/94, NJW 1997, 1974).
4. Im Streitfall hat das BVerfG den Zugriff auf das Eigentum durch eine Steuerbelastung von mehr als 50 % als verfassungsrechtlich gerechtfertigt angesehen. Der Gesetzgeber darf – so das BVerfG – einen progressiven Steuertarif vorschreiben und hohe Einkommen auch hoch be?lasten. Die Grenze der Steuerbelastung wird durch die allgemeinen Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der Angemessenheit bestimmt. Einem Steuerpflichtigen muss nach ?Abzug der Steuern noch ein so hohes, frei verfügbares Einkommen verbleiben, dass die Privatnützigkeit seines Einkommens sichtbar bleibt.
Fazit: Eine zahlenmäßig zu konkretisierende, allgemein verbindliche Grenze für die Gesamtsteuerlast ist weder im GG noch in einer anderen Gesetzesbestimmung normiert.
Link zur Entscheidung
BVerfG, Beschluss vom 18.1.2006, 2 BvR 2194/99