Leitsatz
1. Umsätze, die wie die im Ausgangsverfahren fraglich sind, selbst wenn sie ausschließlich in der Absicht getätigt werden, einen Steuervorteil zu erlangen, und sonst keinen wirtschaftlichen Zweck verfolgen, Lieferungen von Gegenständen oder Dienstleistungen und eine wirtschaftliche Tätigkeit i.S.d. Art. 2 Nrn. 1, 4 Abs. 1 und 2, 5 Abs. 1 und 6 Abs. 1 der 6. EG-RL, wenn sie die objektiven Kriterien erfüllen, auf denen diese Begriffe beruhen.
2. Die 6. EG-RL ist dahin auszulegen, dass sie dem Recht des Steuerpflichtigen auf Vorsteuerabzug entgegensteht, wenn die Umsätze, die dieses Recht begründen, eine missbräuchliche Praxis darstellen.
Die Feststellung einer missbräuchlichen Praxis erfordert zum einen, dass die fraglichen Umsätze trotz formaler Anwendung der Bedingungen der einschlägigen Bestimmungen der 6. EG-RL und des zu ihrer Umsetzung erlassenen nationalen Rechts einen Steuervorteil zum Ergebnis haben, dessen Gewährung dem mit diesen Bestimmungen verfolgten Ziel zuwiderlaufen würde. Zum anderen muss auch aus einer Reihe objektiver Anhaltspunkte ersichtlich sein, dass mit den fraglichen Umsätzen im Wesentlichen ein Steuervorteil bezweckt wird.
3. Ist eine missbräuchliche Praxis festgestellt worden, so sind die diese Praxis bildenden Umsätze in der Weise neu zu definieren, dass auf die Lage abgestellt wird, die ohne die diese missbräuchliche Praxis begründenden Umsätze bestanden hätte.
Normenkette
Art. 2 Nr. 1, Art. 4 Abs. 1 und 2, Art. 5 Abs. 1 und Art. 6 Abs. 1 6. EG-RL (§ 1 Abs. 1 Nr. 1, § 3 Abs. 1 und § 3 Abs. 9 UStG, § 42 AO 1977
Sachverhalt
Halifax, eine Bank mit im Wesentlichen steuerfreien Umsätzen, wollte ein Gebäude für ein Call-Center errichten und versuchte unter Einbeziehung hundertprozentiger, nach englischem Recht umsatzsteuerrechtlich teils selbstständigen, teils nichtselbstständigen Tochtergesellschaften sowie mit einer Vielzahl von aufeinander abgestimmten, teils gegenläufigen, teils zeitlich versetzten Verträgen und Umsätzen (Erschließungs-, Pacht- und Unterpacht- und Darlehensverträge, Anzahlungen mit Prämien) sowie mit Hilfe von Treuhandkonten, auf die Entgelte für eine Nacht eingezahlt und am folgenden Tag verwendet wurden, den ihr selbst nur zu einem geringen Teil möglichen Vorsteuerabzug zu erlangen. Die Finanzverwaltung hatte den Vorsteuerabzug abgelehnt.
Entscheidung
Der EuGH entschied wie im Leitsatz wiedergegeben. Zur Frage der Erhebung der Mehrwertsteuer regle lediglich Art. 20 der 6. EG-RL die Vorsteuerberichtigung. Ansonsten sei es Sache der Mitgliedstaaten, die Erhebung der Umsatzsteuer zu regeln. Auch hier sei der Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer zu beachten. Deshalb sind – bei Feststellung einer missbräuchlichen Praxis – die Umsätze in der Weise neu zu definieren, dass auf die Lage abgestellt wird, die ohne die diese missbräuchliche Praxis darstellenden Umsätze bestanden hätte. Das entspricht § 42 Abs. 1 Satz 2 AO, wonach bei Vorliegen einer missbräuchlichen Gestaltung der Steueranspruch so entsteht, wie er bei einer den wirtschaftlichen Vorgängen angemessenen rechtlichen Gestaltung entsteht.
Hinweis
Die Besprechungsentscheidung betrifft einen in Großbritannien spielenden Fall; streitig war, ob Umsätze Lieferungen von Gegenständen (vgl. § 3 Abs. 1 UStG) oder Dienstleistungen (vgl. § 3 Abs. 9 UStG) und eine wirtschaftliche Tätigkeit (vgl. § 1 Abs. 1 Nr. 1 UStG) darstellen, wenn sie ausschließlich in der Absicht getätigt werden, einen Steuervorteil zu erlangen und sonst keinen wirtschaftlichen Zweck verfolgen.
1. Ausgangspunkt ist zunächst die Frage, ob es sich – wie die englische Finanzverwaltung meinte – überhaupt um Lieferungen oder Dienstleistungen handelt, wenn Ziel eines Umsatzes nur die Vermeidung der Mehrwertsteuer bzw. die Erlangung der Vorsteuer sei. Die Frage berührt die Abgrenzung Scheingeschäft oder nicht. Kann das Ziel nur erreicht werden, wenn das Rechtsgeschäft durchgeführt wird, liegt kein Scheingeschäft vor.
Die Begriffe "Lieferungen von Gegenständen" (Art. 5 Abs. 1 der 6. EG-RL; vgl. § 3 Abs. 1 UStG), "Dienstleistungen" (Art. 6 Abs. 1 der 6. EG-RL; vgl. § 3 Abs. 9 UStG) und "Steuerpflichtiger" (Unternehmer) sowie "wirtschaftlichen Tätigkeiten" (Art. 4 der 6. EG-RL; vgl. § 2 UStG) sind objektiv zu verstehen. Zweck und Ergebnis der betroffenen Umsätze sind ohne Bedeutung. Handelt es sich also bei den – zunächst isoliert zu betrachtenden – Rechtsgeschäften nicht um Scheingeschäfte, bei denen die Tatbestandsmerkmale einer Lieferung, einer Dienstleistung nicht erfüllt sind, ist grundsätzlich umsatzsteuerrechtlich vom Vorliegen einer Lieferung oder Dienstleistung auszugehen, auch wenn nach dem Gesamtplan ausschließlich ein Steuervorteil erstrebt wird (vgl. Rd.Nr. 55 ff.).
2. Von der Frage, ob eine Lieferung, eine Dienstleistung (gegen Entgelt) vorliegt zu unterscheiden ist die Frage, ob dem Recht des Steuerpflichtigen auf Vorsteuerabzug entgegensteht, wenn die Umsätze, die dieses Recht begründen, eine missbräuchliche Praxis darstellen.
Nach ständiger...