Leitsatz
1. Artikel 5 Absatz 8 der 6. EG-RL in der Fassung der Richtlinie 95/7/EG des Rates vom 10.4.1995 zur Änderung der Richtlinie 77/388 und zur Einführung weiterer Vereinfachungsmaßnahmen im Bereich der Mehrwertsteuer – Geltungsbereich bestimmter Steuerbefreiungen und praktische Einzelheiten ihrer Durchführung – ist dahin auszulegen, dass, wenn ein Mitgliedstaat von der Befugnis nach Artikel 5 Abs. 8 Satz 1 Gebrauch gemacht hat, die Übertragung einer Vermögensmasse für Mehrwertsteuerzwecke nicht als Lieferung von Gegenständen zu behandeln, dieser Grundsatz der Nicht-Lieferung – vorbehaltlich einer etwaigen Inanspruchnahme der Befugnis –, seine Geltung unter den Umständen des Artikels 5 Abs. 8 Satz 2 zu beschränken für jede Übertragung eines Geschäftsbetriebs oder eines selbstständigen Unternehmensteils gilt, die jeweils materielle und gegebenenfalls immaterielle Bestandteile umfassen, die zusammen genommen ein Unternehmen oder einen Unternehmensteil bilden, mit dem eine selbstständige wirtschaftliche Tätigkeit fortgeführt werden kann. Der durch die Übertragung Begünstigte muss jedoch beabsichtigen, den übertragenen Geschäftsbetrieb oder Unternehmensteil zu betreiben und nicht nur die betreffende Geschäftstätigkeit sofort abzuwickeln sowie gegebenenfalls den Warenbestand zu verkaufen.
2. Ein Mitgliedstaat, der von der Möglichkeit nach Artikel 5 Abs. 8 Satz 1 der 6. EG-RL in der Fassung der Richtlinie 95/7 Gebrauch gemacht hat, die Übertragung einer Vermögensmasse für Mehrwertsteuerzwecke nicht als Lieferung von Gegenständen zu behandeln, darf nach der genannten Bestimmung diesen Grundsatz der Nicht-Lieferung nicht auf die Fälle der Übertragung einer Vermögensmasse beschränken, in denen der Begünstigte eine Gewerbegenehmigung für die wirtschaftliche Tätigkeit besitzt, die mit dieser Vermögensmasse ausgeübt werden kann.
Normenkette
Art. 5 Abs. 8 der 6. EG-RL (vgl. § 1 Abs. 1a UStG)
Sachverhalt
Die Klägerin, die ein Bekleidungsgeschäft betrieben hatte, verkaufte dieses an M, der eine Parfümerie betrieb. Auf der Rechnung war keine Umsatzsteuer ausgewiesen, weil die Klägerin der Auffassung war, es liege eine Geschäftsveräußerung im Ganzen vor.
Die luxemburgische Steuerverwaltung meinte, es liege deswegen keine Geschäftsveräußerung vor, weil der Übergeber ein Bekleidungsgeschäft, der Übernehmer eine Parfümerie betreibe. Er führe deshalb das übertragene Geschäft nicht – wie erforderlich – fort und dürfe das – mangels nach luxemburgischem Recht erforderlicher Genehmigung – auch aus Rechtsgründen nicht. Das luxemburgische Gericht legte die Sache dem EuGH vor; es hatte Zweifel, inwieweit eine "Geschäftsveräußerung" i.S.d. Art. 5 Abs. 8 der 6. EG-RL die Fortführung des Unternehmens voraussetze.
Entscheidung
Der EuGH entschied wie in den Praxis-Hinweisen erläutert. Für die Auslegung des § 1 Abs. 1a UStG bedeutet dies: Nicht steuerbar ist eine Geschäftsveräußerung danach (nur), wenn der Erwerber zumindest die objektiv belegte Absicht der Fortführung des übertragenen Unternehmens oder des Teilbetriebs hat.
Hinweis
Die Besprechungsentscheidung betrifft eine die Nichtsteuerbarkeit der Geschäftsveräußerung im Ganzen betreffende luxemburgische Vorlage an den EuGH; die luxemburgische Regelung (§ 9 Abs. 2 des Mehrwertsteuergesetzes) entspricht der deutschen Regelung in § 1 Abs. 1a UStG.
Art. 5 Abs. 8 der 6. EG-RL erlaubt den Mitgliedstaaten, die Übertragung eines Gesamtvermögens oder eines Teilvermögens so zu behandeln, als ob keine Lieferung von Gegenständen vorliegt, und den Begünstigten der Übertragung als Rechtsnachfolger des Übertragenden anzusehen. Hat ein Mitgliedstaat – wie z.B. Deutschland in § 1 Abs. 1a UStG und Luxemburg – von dieser Befugnis Gebrauch gemacht, unterliegt die Übertragung nicht der Mehrwertsteuer. Der Erwerber tritt mit allen Folgen für die vom Übertragenden vor der Übertragung beanspruchten Vorsteuerbeträge bei Investitionsgütern hinsichtlich der Berichtigung als Rechtsnachfolger an dessen Stelle.
Hat ein Mitgliedstaat von dieser Befugnis – Geschäftsveräußerung unterliegt nicht der Umsatzsteuer – Gebrauch gemacht, darf er nach Art. 5 Abs. 8 Satz 2 der 6. EG-RL Fälle der Übertragung einer Vermögensmasse auf einen Begünstigten, der kein Steuerpflichtiger i.S.d. 6. EG-RL (d.h. kein Unternehmer) ist oder nur für einen Teil seiner Tätigkeit als Steuerpflichtiger (d.h. als Unternehmer) handelt, von der Behandlung als Nicht-Lieferung ausnehmen, wenn dies zur Vermeidung von Wettbewerbsverzerrungen erforderlich ist. D.h. ein Mitgliedstaat kann zwar Ausnahmen von der Behandlung als nichtsteuerbare Geschäftsveräußerung vorsehen, aber nur zur Vermeidung von Wettbewerbsverzerrungen.
Hat ein Mitgliedstaat von dieser für Wettbewerbsverzerrungen geltenden Ausnahme keinen Gebrauch gemacht, muss er jede Geschäftsveräußerung als nicht steuerbar behandeln.
Der EuGH betont, dass ebenso wie die Begriffe der Befreiungsvorschriften auch die – in der 6. EG-RL nicht definierten – Begriffe "Übertragung des Gesamtvermögens oder eines...