Rz. 57
Es ist seit langem umstritten, ob die Anwendung und Folgen der Sitztheorie im Rahmen des europäischen Binnenmarktes mit der den Gesellschaften in Art. 49, 54 AEUV garantierten Niederlassungsfreiheit zu vereinbaren ist. Der EuGH hat Entscheidungen gefällt, die hier mehr Licht in das Dunkel gebracht haben.
Nach dem Urteil "Centros" des EuGH verstößt es gegen die Niederlassungsfreiheit, wenn ein Mitgliedstaat die Eintragung der Zweigniederlassung einer Gesellschaft verweigert, die in einem anderen Mitgliedstaat, in dem sie ihren (nur satzungsmäßigen) Sitz hat, rechtmäßig errichtet worden ist, aber keine Geschäftstätigkeit entfaltet, wenn die Zweigniederlassung es der Gesellschaft ermöglichen soll, ihre gesamte Geschäftstätigkeit in dem Staat auszuüben, in dem diese Zweigniederlassung errichtet wird, ohne dort eine Gesellschaft zu errichten.
Rz. 58
An dieses Urteil knüpfte der EuGH in seiner Entscheidung "Überseering" an. Es verstoße gegen die Niederlassungsfreiheit, wenn einer Gesellschaft, die nach dem Recht des Mitgliedstaats, in dessen Hoheitsgebiet sie ihren satzungsmäßigen Sitz hat, gegründet worden ist, von dem Recht eines anderen Mitgliedstaates, in den sie ihren tatsächlichen Verwaltungssitz verlegt hat, nach dessen Recht deshalb die Rechtsfähigkeit und damit die Parteifähigkeit vor seinen nationalen Gerichten abgesprochen wird. Vielmehr habe dieser andere Mitgliedstaat die Rechtsfähigkeit zu achten, die diese Gesellschaft nach dem Recht ihres Gründungsstaats besitzt.
Diesen Gedanken hat der Gerichtshof in seiner nachfolgenden Entscheidung "Inspire Art" nochmals klargestellt und weiter ausgeführt. Nach Ansicht des EuGH steht die Niederlassungsfreiheit einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegen, die die Ausübung der Freiheit zur Errichtung einer Zweigniederlassung in diesem Staat durch eine nach dem Recht eines anderen Mitgliedstaats gegründete Gesellschaft von bestimmten Voraussetzungen abhängig macht, die im innerstaatlichen Recht für die Gründung von Gesellschaften bezüglich des Mindestkapitals und der Haftung der Geschäftsführer vorgesehen sind. Anders sei es nur dann, wenn im konkreten Fall ein Missbrauch nachgewiesen werde.
Rz. 59
In jüngerer Zeit hat der EuGH die von ihm aufgestellten Grundsätze in den Entscheidungen "Vale" und "Polbud" aufrechterhalten und im Hinblick auf grenzüberschreitende Umwandlungsmaßnahmen fortentwickelt. So hat der EuGH in der Entscheidung "Vale" ausgesprochen, dass bei einer grenzüberschreitenden Umwandlungsmaßnahme (Verschmelzung) es dem Aufnahmemitgliedstaat verwehrt ist, die Eintragung der ausländischen Rechtsvorgängerin zu verweigern, soweit eine solche Eintragung hinsichtlich eines reinen Inlandssachverhaltes gesetzlich vorgesehen ist. Mithin dürften innerhalb der EU-Mitgliedstaaten einer Hereinverschmelzung keine wesentlichen Bedenken entgegenstehen. Im Sachverhalt der Entscheidung "Polbud" wollte eine polnische Gesellschaft ihren Satzungssitz nach Luxemburg verlegen, wobei der effektive Verwaltungssitz in Polen beibehalten werden sollte. Die Konsequenz liegt – wenn die bisherige Grundhaltung des EuGH zur Niederlassungsfreiheit beibehalten wird – darin, dass ein grenzüberschreitender Formwechsel in eine Gesellschaftsform des luxemburgischen Rechts stattfindet. Es erfolgt ein Statutenwechsel in das Gesellschaftsrecht des Zuzugsstaates Luxemburg bei gleichzeitiger Beibehaltung der operativen Strukturen im Wegzugsstaat Polen. Aus polnischer Perspektive entsteht eine Scheinauslandsgesellschaft. Nach dem EuGH darf der Wegzugsstaat diese Veränderung nicht durch nationale Rechtsvorschriften behindern. Einen Rechtsmissbrauch sieht der EuGH nicht.