Leitsatz (amtlich)
Zum Haftgrund der Fluchtgefahr bei einem Embargoverstoß nach § 34 AWG bei einem Täter, der aus humanitären Gründen gehandelt hat.
Verfahrensgang
LG Berlin (Entscheidung vom 30.11.2005; Aktenzeichen (514) 83 Js 86/02 KLs (14/05)) |
AG Berlin-Tiergarten (Entscheidung vom 18.08.2005; Aktenzeichen 351 Gs 3404/05) |
Tenor
Auf die Beschwerde des Angeklagten werden die Haftfortdauerentscheidung des Landgerichts Berlin vom 30. November 2005 und der Haftbefehl des Amtsgerichts Tiergarten in Berlin vom 18. August 2005 - 351 Gs 3404/05 - aufgehoben.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens fallen der Landeskasse Berlin zur Last.
Gründe
Das Landgericht Berlin hat den Angeklagten am 30. November 2005 wegen Zuwiderhandlungen gegen Sanktionsmaßnahmen des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen in 317 Fällen, davon in 288 Fällen in Tateinheit mit einem Verstoß gegen das Kreditwesengesetz zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und acht Monaten verurteilt. Über die von ihm eingelegte Revision ist noch nicht entschieden.
Am 18. August 2005 wurde der Angeklagte aufgrund des Haftbefehls des Amtsgerichts Tiergarten vom gleichen Tag verhaftet; er befindet sich seit diesem Tag ununterbrochen in Untersuchungshaft. Der Haftbefehl hat die dem Urteil zugrunde liegenden Taten zum Inhalt und ist auf den Haftgrund der Fluchtgefahr gestützt. Bei der Verkündung des Urteils am 30. November 2005 hat die Strafkammer die Aufrechterhaltung der Haftverhältnisse angeordnet. Der Angeklagte hat am 6. Februar 2006 Beschwerde gegen den Beschluß vom 30. November 2005 eingelegt und gleichzeitig beantragt, den Haftbefehl aufzuheben, hilfsweise diesen außer Vollzug zu setzen. Die Beschwerde, der die Strafkammer nicht abgeholfen hat, ist erfolgreich.
1.
Der dringende Tatverdacht ergibt sich aus dem am 30. November 2005 gegen den Angeklagten ergangenen Urteil. Der Haftbefehl war dennoch aufzuheben, da kein Haftgrund besteht.
Der Haftgrund der Verdunkelungsgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 3 StPO) ist mit dem Urteil des Landgerichts vom 30. November 2005 entfallen (vgl. Meyer-Goßner StPO, 48. Aufl. § 112, Rdn. 35).
2.
Der Haftgrund der Fluchtgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO) liegt zum jetzigen Zeitpunkt nicht mehr vor.
Fluchtgefahr besteht, wenn die Würdigung aller Umstände es wahrscheinlicher macht, daß sich der Angeklagte dem Strafverfahren eher entziehen wird als daß er sich ihm zur Verfügung hält (Meyer-Goßner, § 112 StPO Rdn. 17, 19). Die so definierte Wahrscheinlichkeit hält der Senat für nicht gegeben.
a)
Nach der erstinstanzlichen Verurteilung dient die Untersuchungshaft noch der Sicherung des weiteren Verfahrens nach möglicher Zurückverweisung aus dem Revisionsrechtszug und der Vollstreckung der erkannten Strafe für den Fall, daß sie Rechtskraft erlangt (vgl. BVerfGE 32, 87, 93). Den einzigen Fluchtanreiz bietet die Erwartung, den noch nicht vollstreckten Teil der Freiheitsstrafe noch in Unfreiheit verbringen zu müssen. Da die Staatsanwaltschaft ihre Revision zurückgenommen hat, so daß der Angeklagte nicht zu einer höheren Freiheitsstrafe als die vom Landgericht verhängten zwei Jahre und acht Monate verurteilt werden kann (§ 358 Abs. 2 StPO), bemißt sich dieser Höchstzeitraum für den seit dem 18. August 2005 ununterbrochen in Untersuchungshaft befindlichen Beschwerdeführer auf etwa zwei Jahre und anderthalb Monate.
Zwar muß er befürchten, daß seine Revision erfolglos bleibt, und der genannte Zeitraum überschreitet auch geringfügig die etwa bei zwei Jahren anzusetzende Grenze, bei der die Senate des Kammergerichts allgemein die Auffassung vertreten, daß es weiterer die Fluchtgefahr begründender Tatsachen (vgl. die Beispiele bei Meyer-Goßner, § 112 StPO Rdn. 20) nicht mehr bedarf und nur noch zu prüfen ist, ob Tatsachen gegeben sind, welche die hieraus herzuleitende Fluchtgefahr zu mindern geeignet sind (vgl. KG, Beschluß vom 30. März 1999 - 4 Ws 79/99 -). Solche Tatsachen sind hier aber gegeben. Denn der sozial eingeordnet lebende Beschwerdeführer kann nicht nur damit rechnen, daß er als wegen eines Wirtschaftdelikts verurteilter Erstverbüßer den Erfahrungen des Senats zufolge als für die Verbüßung im offenen Vollzug geeignet gehalten werden wird (vgl. Senat, Beschluß vom 17. November 2004 - 5 Ws 581/04 -); sondern er hat auch eine konkrete Hoffnung, einen geringeren Strafrest als den oben genannten verbüßen zu müssen (vgl. Senat aaO).
b)
aa)
Es liegt im Streitfall bereits nicht außerhalb jeglicher Erwartung, daß das Revisionsgericht die Voraussetzungen eines minder schweren Falles gemäß § 34 Abs. 4 Satz 2 AWG annehmen könnte. Das Landgericht hat bei der Prüfung des Vorliegens der Voraussetzungen eines - von ihm letztlich verneinten - minder schweren Falles zahlreiche Umstände genannt, die zugunsten des Angeklagten zu berücksichtigen seien. So hat es festgestellt (UA S. 25), daß der Angeklagte nicht vorbestraft ist, er die Taten objektiv vollumfänglich eingeräumt hat, daß die von ihm bewirkten Geldzahlungen - anders als in dem Fall, der dem Urteil des Bund...