Leitsatz (amtlich)

1. Der mandatierte Rechtsanwalt, der keine Vertretungsvollmacht (§ 73 Abs. 3 OWiG) vorlegen kann, darf in der Abwesenheitsverhandlung nach § 74 Abs. 1 OWiG gleichwohl als Verteidiger auftreten und Anträge stellen. Er darf für den Betroffenen aber keine Erklärungen abgeben oder entgegennehmen.

2. Hat das Tatgericht eine Beweisanregung als Beweisantrag behandelt, so bleibt revisionsrechtlicher Prüfungsmaßstab für die Verbescheidung die allgemeine Aufklärungspflicht (§ 244 Abs. 2 StPO bzw. § 77 Abs. 1 OWiG) und nicht das Beweisantragsrecht (§ 244 Abs. 3 StPO, § 77 Abs. 2 OWiG).

 

Normenkette

OWiG § 73 Abs. 3, § 74 Abs. 1, § 77 Abs. 1-2; StPO § 244 Abs. 2-3

 

Verfahrensgang

AG Berlin-Tiergarten (Entscheidung vom 12.06.2015; Aktenzeichen 297 OWi 444/15)

 

Tenor

Die Rechtsbeschwerde des Betroffenen gegen das Urteil des Amtsgerichts Tiergarten vom 12. Juni 2015 wird verworfen.

Der Betroffene hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.

 

Gründe

Das Amtsgericht Tiergarten hat den Betroffenen wegen eines fahrlässigen Rotlichtverstoßes zu einer Geldbuße von 200,- Euro verurteilt und nach § 25 StVG mit der Maßgabe des § 25 Abs. 2a StVG ein einmonatiges Fahrverbot festgesetzt. Die dagegen eingelegte Rechtsbeschwerde des Betroffenen, mit der er die Verletzung sachlichen und formellen Rechts beanstandet, hat keinen Erfolg.

1. Die Verfahrensrüge, das Amtsgericht habe einen Beweisantrag auf Einholung eines Sachverständigengutachtens zum Beweis der Tatsache, der Betroffene habe "begründeten Anlass zur Annahme" gehabt, "dass der 'Hintermann' auf sein KFZ auffahren würde", prozessrechtswidrig abgelehnt, ist jedenfalls unbegründet.

a) Allerdings steht der Zulässigkeit der Verfahrensrüge nicht entgegen, dass der Verteidiger in der Hauptverhandlung ausweislich der Urteilsgründe keine schriftliche Vertretungsvollmacht vorlegen konnte und sich diese zu diesem Zeitpunkt auch nicht bei den Akten befand. Zwar konnte sich der Betroffene, der von der Anwesenheitsverpflichtung nach § 73 Abs. 2 OWiG entbunden war, nach § 73 Abs. 3 OWiG nur durch "einen schriftlich bevollmächtigten Verteidiger vertreten lassen". Es kann aber offen bleiben, ob die Vertretungsvollmacht, wie es trotz der unterschiedlichen Formulierungen von § 73 Abs. 3 OWiG und § 51 Abs. 3 OWiG ("Verteidiger, dessen Vollmacht sich bei den Akten befindet") einhelliger Meinung entspricht, dem Gericht zu Beginn der Hauptverhandlung schriftlich vorliegen muss (so OLG Bamberg NZV 2011, 509; OLG Jena VRS 111, 200; Senge in Karlsruher Kommentar, OWiG 4. Aufl., § 73 Rn. 41) oder ob etwa eine anwaltliche Versicherung des Bestehens einer schriftlichen Vertretungsvollmacht genügen könnte. Denn der nur mit einer Verteidigervollmacht versehene Rechtsanwalt kann zwar anstelle des Betroffenen keine Erklärungen abgeben oder entgegennehmen, er hat aber sämtliche dem Verteidiger zustehenden Befugnisse (vgl. BayObLG VRS 61, 39; Senge in Karlsruher Kommentar, aaO., § 73 Rn. 42). Dazu gehört auch das Recht, in der Hauptverhandlung Anträge zu stellen.

Da der Verteidiger hier ausweislich der Rechtsbeschwerdeschrift bevollmächtigt war und die Verteidigervollmacht, anders als die Vertretungsvollmacht, auch im Abwesenheitsverfahren keiner Form bedarf (vgl. Seitz in Göhler, OWiG 16. Aufl., § 73 Rn. 26), konnte der Verteidiger in der Hauptverhandlung im eigenen Namen wirksam Anträge stellen.

b) Das Amtsgericht hat den Antrag auf Einholung eines Sachverständigengutachtens über die Behauptung des Verteidigers, der Betroffene habe "begründeten Anlass zur Annahme" gehabt, "dass der 'Hintermann' auf sein KFZ auffahren würde", jedoch im Ergebnis zulässig abgelehnt. Dabei handelte es sich nämlich um keinen nach § 77 Abs. 2 OWiG bzw. § 244 Abs. 3 StPO iVm § 46 Abs. 1 OWiG gestellten und zu verbescheidenden Beweisantrag, sondern um eine nach § 77 Abs. 1 OWiG bzw. § 244 Abs. 2 StPO iVm § 46 Abs. 1 OWiG zu behandelnde Beweisanregung, der das Amtsgericht nicht nachzugehen brauchte.

aa) Der bezeichnete Antrag war kein ordnungsgemäßer Beweisantrag, weil der Verteidiger keine dem Beweis zugängliche, hinreichend konkrete Tatsache unter Beweis gestellt hat. Nach allgemeiner Auffassung muss ein Beweisantrag eine bestimmte Beweistatsache bezeichnen (vgl. nur BGH VRS 80, 128). Das ist bei der Behauptung, der Betroffene habe "begründeten Anlass zur Annahme" gehabt, "dass der 'Hintermann' auf sein KFZ auffahren würde", nicht der Fall. Denn ob der Betroffene eine derartige Befürchtung haben musste, ist Gegenstand einer - im Hinblick auf in der konkreten Situation zuzubilligende Reaktionszeiten gegebenenfalls sogar rechtlichen - Bewertung, welche die Ermittlung von im Antrag nicht bezeichneten Anknüpfungstatsachen erfordert. Damit handelt es sich bei den unter Beweis gestellten Umständen nicht um Tatsachen, sondern letztlich um Wertungen aus äußeren Gegebenheiten, die ihrerseits die einer Beweiserhebung zugänglichen Tatsachen sind (vgl. BGH aaO.).

bb) Über den Antrag war demgemäß allein unter dem Gesichtspunkt der Aufkläru...

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