Entscheidungsstichwort (Thema)

Genügende Entschuldigung bei Gastroenteritis

 

Orientierungssatz

Orientierungssätze:

1. Der Rechtsmittelführer ist in der Rechtsbeschwerde auch zur Darstellung eines potentiell rügefeindlichen Aktenvermerks des Tatrichters (hier: Erklärung, ein Entschuldigungsschreiben habe zunächst nicht vorgelegen) verpflichtet.

2. Unterbleibt die Darstellung, führt dies ausnahmsweise nicht zur Unzulässigkeit des Rechtsmittels, wenn der Tatrichter den Einspruch des säumigen Betroffenen unabhängig vom Vorliegen der Urkunde nicht verwerfen durfte.

3. Eine zur Entschuldigung der Abwesenheit geltend gemachte Erkrankung muss nicht im Wortlaut benannt werden; die Benennung des ICD-10-Codes genügt.

4. Bei einer durch ärztliches Attest dokumentierten Gastroenteritis ist die bestehende Symptomatik mit "akuter Brechdurchfall" ausreichend beschrieben.

5. Es ist regelmäßig unzulässig, aus dem Umstand, dass der erkrankte Betroffene einen Arzt aufgesucht hat, auf seine Verhandlungsfähigkeit zu schließen.

 

Normenkette

OWiG § 74 Abs. 2

 

Verfahrensgang

AG Berlin-Tiergarten (Entscheidung vom 30.07.2021; Aktenzeichen 341 OWi 510/21)

 

Tenor

1. Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird das Urteil des Amtsgerichts Tiergarten vom 30. Juli 2021 mit den Feststellungen aufgehoben.

2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde - an das Amtsgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

I.

Der Polizeipräsident in Berlin hat gegen den Betroffenen wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung einen Bußgeldbescheid erlassen und eine Geldbuße sowie ein Fahrverbot festgesetzt. Der Betroffene hat hiergegen Einspruch eingelegt. Am 30. Juli 2021, dem Tag der Hauptverhandlung, hat der Verteidiger durch Schreiben vom "29. Juli 2021" beantragt, den Termin aufzuheben. Zur Begründung hat er ausgeführt, der Betroffene leide unter "akutem Brechdurchfall". Er habe seinen Arzt aufgesucht und sich behandeln lassen, sei aber nicht in der Lage, einer Hauptverhandlung zu folgen. Dem Schreiben war ein Überweisungsschein ("Diagnose K52.9 G ... erbitte Colonoskopie zum Ausschluss Colitis") und eine ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ("arbeitsunfähig seit 30.07.2021") mit dem ICD-10-Code "K52.9 G" beigefügt. Dahinter verbirgt sich die gesicherte ("G") Diagnose "Nichtinfektiöse Gastroenteritis und Kolitis, nicht näher bezeichnet". Nachdem zur Hauptverhandlung niemand erschienen war, hat das Amtsgericht den Einspruch mit der Begründung verworfen, der Betroffene fehle nicht genügend entschuldigt. Zwar habe er eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung eingereicht; aus dieser ergebe sich aber weder die Art noch die Dauer und auch nicht die Schwere der Erkrankung. Weiter heißt es: "Warum der Betroffene in der Lage war, einen Arzt aufzusuchen, aber nicht zur Hauptverhandlung erscheinen konnte, ist nicht plausibel." Hiergegen wendet sich der Betroffene mit der Rechtsbeschwerde. Neben der Verletzung sachlichen Rechts rügt er eine Verletzung des § 74 Abs. 2 OWiG. Das Rechtsmittel hat Erfolg.

1. Die Rüge der Verletzung des § 74 Abs. 2 OWiG ist - im Ergebnis - zulässig erhoben. Zwar verschweigt die Rechtsbeschwerde einen Aktenvermerk der Abteilungsrichterin vom 27. September 2021, in dem es heißt, ihr hätten bei der Verwerfungsentscheidung die Überweisung und die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung, nicht aber der Verlegungsantrag vom "29. Juli 2021" vorgelegen, in dem die konkrete Symptomatik ("akuter Brechdurchfall") beschrieben wird (Bl. 43). Zur Darstellung eines solchen potentiell rügefeindlichen Umstands ist der Rechtsmittelführer in der Rechtsbeschwerde verpflichtet (vgl. nur BVerfG NJW 2005, 1999 m. w. N.). Das Versäumnis führt hier aber ausnahmsweise nicht zur Unzulässigkeit des Rechtsmittels, weil der Einspruch auch dann nicht hätte verworfen werden dürfen, wenn dem Amtsgericht nur die beiden ärztlichen Urkunden vorgelegen hätten. Im Übrigen beschreibt das Rechtsmittel den Verfahrensgang ausreichend und bezeichnet mit "akutem Brechdurchfall" (RB S. 2) auch die Symptome der Erkrankung in einer den §§ 79 Abs. 3 Satz 3 OWiG, 344 Abs. 2 Satz 2 StPO noch genügenden Weise.

2. Die Rüge der Verletzung des § 74 Abs. 2 OWiG ist auch begründet. Bei § 74 Abs. 2 OWiG handelt es sich um eine Ausnahmevorschrift, die eng auszulegen ist (vgl. Senat, Beschluss vom 6. Juli 1998 - 3 Ws (B) 324/98 - [juris]; OLG Stuttgart Justiz 2004, 126; BayObLG StV 2001, 338). Entscheidend ist bei ihrer Anwendung nicht, ob sich der Betroffene genügend entschuldigt hat, sondern ob er im Zeitpunkt der Hauptverhandlung genügend entschuldigt war (vgl. Senat VRS 132, 115 m.w.N.). Hat das Tatgericht Anhaltspunkte für eine genügende Entschuldigung, so darf es den Einspruch nur verwerfen, wenn es sich die Überzeugung verschafft hat, dass diese nicht hinreichen. Hierbei ist eine großzügige Auslegung zu Gunsten des Betroffenen geboten (vgl. BGHSt 17, 391). Die Vorlage eines ärztlichen Attests enthält die konkludente Entbindung von der ärztlichen Schweigepflicht (vgl. ...

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