Verfahrensgang
AG Berlin-Tiergarten (Entscheidung vom 05.09.2011; Aktenzeichen 504 Qs 98/11) |
AG Berlin-Tiergarten (Entscheidung vom 18.06.2011; Aktenzeichen (351 Gs) 243 Js 466/11 (2092/11)) |
Tenor
Auf die weitere Beschwerde des Beschuldigten werden der Haftbefehl des Amtsgerichts Tiergarten in Berlin vom 17. Juni 2011 sowie der Haftverschonungsbeschluss dieses Gerichts vom 18. Juni 2011 - 351 Gs 2092/11 - und der Beschluss des Landgerichts Berlin vom 5. September 2011 - 504 Qs 98/11 - aufgehoben.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens fallen der Landeskasse Berlin zur Last.
Gründe
Gegen den Beschwerdeführer besteht seit dem 17. Juni 2011 der aus dem Entscheidungssatz ersichtliche Haftbefehl, der auf den Haftgrund der Flucht (§ 112 Abs. 2 Nr. 1 StPO) gestützt ist. Dem Beschuldigten wird eine Untreue (§§ 266 Abs. 1 und 2, 263 Abs. 3 Nr. 2 StGB) und konkret Folgendes zur Last gelegt: Er wurde mit notariellem Vertrag des Notars Dr. P in Berlin vom 3. Mai 2011 zum neuen Geschäftsführer der in Berlin ansässigen "E" GmbH bestellt, deren Geschäftszweck darin bestand, Abiturabschlussfeiern und -reisen zu organisieren und zu vermitteln. Mit demselben notariellen Vertrag wurden die Geschäftsanteile der beiden Gesellschafter und Mitbeschuldigten L und H (im Nominalwert von 18.900 bzw. 6.250 Euro) an den weiteren Beschuldigten R zum Gesamtpreis von 400.000 Euro verkauft. Die unmittelbar nach der Beurkundung fällig werdende erste Tranche des Kaufpreises betrug insgesamt 360.000 Euro. Der Beschuldigte habe noch am gleichen Tag auf Veranlassung des Beschuldigten H, des bisherigen Geschäftsführers der GmbH, von deren Geschäftskonto bei der Berliner Volksbank (Konto-Nr. xxx), das ein Guthaben von 382.056 Euro aufwies, dem notariellen Vertrag entsprechend 360.000 Euro auf ein Anderkonto des Notars überwiesen. Davon hätten L 270.000 Euro und H 90.000 Euro erhalten. Infolge dieser Überweisung, die das nahezu gesamte Vermögen der GmbH aufgezehrt und bei dieser zu einem entsprechend hohen Schaden geführt habe, sei die GmbH nicht mehr in der Lage gewesen, ihren vertraglichen Verpflichtungen betreffend die Ausrichtung von Feiern und Reisen nachzukommen.
Der aufgrund des Haftbefehls festgenommene Beschuldigte ist seit dem 18. Juni 2011, dem Tag seiner Vorführung vor den Amtsrichter, von dem Vollzug der Untersuchungshaft verschont. Es besteht die Auflage, sich zweimal wöchentlich bei der zuständigen Polizeidienststelle zu melden. Dieser Auflage kommt der Beschwerdeführer seither nach. Mit Schriftsatz seiner Verteidigerin vom 2. August 2011 hat er gegen den Haftbefehl mit der Begründung Beschwerde erhoben, es bestehe kein Haftgrund. Durch den angefochtenen Beschluss, der am 12. September 2011 auf der Geschäftsstelle der Strafkammer einging, hat das Landgericht die Beschwerde als unbegründet verworfen. Hiergegen richtet sich die gemäß § 310 Abs. 1 Nr. 1 StPO zulässige weitere Beschwerde des Beschuldigten vom 22. September 2011, die die Staatsanwaltschaft unter dem 10. Oktober 2011 an die Generalstaatsanwaltschaft Berlin weitergeleitet hat. Dem Senat ist die Sache am 31. Oktober 2011 vorgelegt worden. Das Rechtsmittel hat Erfolg.
1. Es kann dahinstehen, ob gegen den Beschuldigten, der sich wiederholt und umfassend zur Sache eingelassen hat, dringender Tatverdacht (§ 112 Abs. 1 StPO) im Sinne des mit dem Haftbefehl dargestellten Tatvorwurfs vorliegt. Denn es liegt jedenfalls keine Fluchtgefahr (112 Abs. 2 Nr. 2 StPO) vor.
a) Fluchtgefahr ist dann gegeben, wenn bei Würdigung aller Umstände des Einzelfalles eine höhere Wahrscheinlichkeit für die Annahme spricht, der Beschuldigte werde sich - zumindest für eine gewisse Zeit (vgl. Hilger in Löwe/Rosenberg, StPO 26. Aufl., § 112 Rn. 32 m.w.N.) - dem Strafverfahren entziehen, als für die Erwartung, er werde sich dem Verfahren zur Verfügung halten (vgl. nur OLG Köln StV 2006, 313; Meyer-Goßner, StPO 54. Aufl., § 112 Rn. 17; Graf in KK-StPO 6. Aufl., § 112 Rn. 16; Deckers in AK-StPO, § 112 Rn. 18, jeweils m.w.N.; enger Hilger aaO.: hohe Wahrscheinlichkeit).
Bei der Prognoseentscheidung ist jede schematische Beurteilung anhand genereller Maßstäbe, insbesondere die Annahme, dass bei einer Straferwartung in bestimmter Höhe stets oder nie ein bedeutsamer Fluchtanreiz bestehe, unzulässig. Die zu erwartenden Rechtsfolgen allein können die Fluchtgefahr grundsätzlich nicht begründen; sie sind lediglich, aber auch nicht weniger als der Ausgangspunkt für die Erwägung, ob ein aus der Straferwartung folgender Fluchtanreiz unter Berücksichtigung aller sonstigen Umstände zu der Annahme führt, der Beschuldigte werde diesem wahrscheinlich nachgeben und flüchtig werden (vgl. Meyer-Goßner aaO., Rn. 24 mit zahlr. Nachw.).
Die Straferwartung beurteilt sich hierbei nicht ausschließlich nach der subjektiven Vorstellung des Beschuldigten; sondern Ausgangspunkt ist der Erwartungshorizont des Haftrichters, in dessen Prognoseentscheidung die subjektive Erwartung des Beschuldigten allerdings mit einzubeziehen ist (vgl. OLG Hamm St...