Entscheidungsstichwort (Thema)
Erklärungen des Verteidigers in der Hauptverhandlung dürfen nicht ohne Weiteres als Erklärungen des schweigenden Betroffenen gewertet werden.
Orientierungssatz
Orientierungssätze:
Äußert sich der Verteidiger in der Hauptverhandlung zur Sache, darf das Gericht diese Angaben nicht ohne weiteres dem schweigenden Betroffenen zurechnen.
Es ist nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, die grundsätzlich auch im Ordnungswidrigkeitenverfahren gelten, zu differenzieren:
a. Äußert sich der Verteidiger in Form eines Schriftsatzes zur Sache, handelt es sich grundsätzlich um eine Prozesserklärung des Verteidigers, die dieser aus eigenem Recht und in eigenem Namen abgibt, und nicht um eine Sacheinlassung des Angeklagten. Gleiches gilt bei entsprechenden Erklärungen in der Hauptverhandlung bei Anwesenheit des Betroffenen.
b. Schriftliche und mündliche Erklärungen des Verteidigers können ausnahmsweise als Einlassung des Angeklagten bzw. des Betroffenen entgegengenommen und verwertet werden, wenn ein gesetzlich vorgesehener Fall der Vertretung vorliegt (§§ 234, 329, 350, 387, 411 StPO bzw. § 73 Abs. 3 OWiG) oder wenn der Angeklagte bzw. der Betroffene ausdrücklich erklärt, sie als eigene gelten zu lassen. Eine solche Erklärung des anwesenden Betroffenen ist eine wesentliche Förmlichkeit und protokollierungspflichtig.
Normenkette
StPO §§ 261, 273-274; OWiG § 71 Abs. 1
Verfahrensgang
AG Berlin-Tiergarten (Entscheidung vom 23.08.2022; Aktenzeichen 424 OWi 35/22 Jug) |
Tenor
1. Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird das Urteil des Amtsgerichts Tiergarten vom 23. August 2022 mit den Feststellungen aufgehoben.
2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde - an das Amtsgericht zurückverwiesen.
Gründe
I.
Das Amtsgericht hat den Betroffenen wegen einer vorsätzlich begangenen Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit zu einer Geldbuße von 1120,00 Euro und einem Fahrverbot von zwei Monat verurteilt und zugleich eine Wirksamkeitsbestimmung nach § 25 Abs. 2a StVO getroffen.
Gegen das Urteil hat der Betroffene rechtzeitig Rechtsbeschwerde einlegen lassen.
Das Amtsgericht hat ihm auf Antrag Wiedereinsetzung in vorigen Stand wegen der verspäteten Rechtsbeschwerdebegründung gewährt, mit der die Verteidigung die Verletzung materiellen und formellen Rechts rügt. Mit der Verfahrensrüge macht sie geltend, das Gericht habe unzutreffend die Angaben zur Fahrereigenschaft und zu den Umständen, aus denen es auf die vorsätzliche Begehungsweise geschlossen habe, auf die Einlassung des Betroffenen gestützt. Wie sich aus dem Protokoll ergebe, habe sich der Betroffene nicht zur Sache geäußert. Vielmehr habe dieser geschwiegen. Lediglich er, der Verteidiger, habe eine Erklärung zur Sache abgegeben, die das Gericht den Urteilsfeststellungen fälschlicherweise zugrunde gelegt habe.
Die Generalstaatsanwaltschaft hat mit ihrer Zuschrift vom 25. November 2022 die Aufhebung des Urteils mit den Feststellungen und die Zurückverweisung der Sache an das Amtsgericht Tiergarten zur erneuten Verhandlung und Entscheidung beantragt.
II.
1. Die Rechtsbeschwerde ist zulässig, insbesondere fristgemäß begründet worden. Die verspätet eingegangene Begründung des Rechtsmittels steht dem nicht entgegen, weil das Amtsgericht - wenn auch für die Entscheidung nicht zuständig (vgl. §§ 46 Abs. 1 OWiG, 46 Abs. 1 StPO) - dem Betroffenen auf seinen Antrag wegen der Fristversäumung Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt hat.
2. Die Rechtsbeschwerde hat mit der Verfahrensrüge Erfolg, so dass es auf die Sachrüge nicht mehr ankommt.
a) Die Verfahrensrüge ist zulässig erhoben.
Denn der Verteidiger hat vorgetragen, dass sich der Betroffene entgegen den Urteilsfeststellungen nicht zur Fahrereigenschaft und anderen Tatumständen geäußert hat. Die den Gründen zu entnehmende Sacheinlassung stammt vom Verteidiger; der Betroffene hat geschwiegen.
b) Die Verfahrensrüge ist auch begründet, weil ausweislich des Protokolls über die Hauptverhandlung am 23. August 2022 eine Sacheinlassung des Betroffenen nicht festzustellen ist und das Amtsgericht nach den Urteilsgründen die Erklärung des Verteidigers fehlerhaft als Einlassung des Betroffenen zur Sache gewertet und seiner Überzeugungsbildung zugrunde gelegt hat.
aa) Eine Äußerung eines Betroffenen zur Sache ist eine wesentliche Förmlichkeit i.S.v. §§ 71 Abs. 1 OWiG i.V.m. § 273 Abs. 1 StPO und daher protokollierungspflichtig. Von einer solchen Pflicht sieht das Ordnungswidrigkeitengesetz im Rahmen der Normen zur Verfahrensvereinfachung insbesondere nach § 78 OWiG auch nicht ab.
Ausweislich des Protokolls hat sich der Betroffene nach Belehrung "zunächst" nicht eingelassen und dies auch nicht im Laufe der weiteren Hauptverhandlung getan. Der Betroffene hat sich demnach nicht selbst zur Sache geäußert, sondern von seinem Schweigerecht Gebrauch gemacht.
bb) Dem Protokoll ist aber zu entnehmen, dass der Verteidiger eine Erklärung abgegeben hat, deren Inhalt auch protoko...