Leitsatz (amtlich)
1. Bei der Beurteilung der Schwere der Tat im Sinne des § 140 Abs. 2 StPO sind weitere gegen den Beschuldigten anhängige Verfahren, hinsichtlich derer eine Gesamtstrafenbildung in Betracht kommt, zu berücksichtigen.
2. Drohen dem Angeklagten in mehreren Parallelverfahren jeweils Strafen, die gesamtstrafenfähig sind und deren Summe voraussichtlich eine Höhe erreicht, die das Merkmal der Schwere der Tat im Sinne des § 140 Abs. 2 StPO begründet, ist im Regelfall die Verteidigung in jedem dieser Verfahren notwendig.
Verfahrensgang
LG Berlin (Entscheidung vom 25.11.2016; Aktenzeichen (560) 272 AR 172/16 Ns (124/16)) |
Tenor
Auf die Beschwerde des Angeklagten wird der Beschluss des Vorsitzenden der Strafkammer 60 des Landgerichts Berlin vom 25. November 2016 aufgehoben.
Dem Beschwerdeführer wird Rechtsanwalt Sch zum Verteidiger bestellt.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die dem Angeklagten insoweit entstandenen notwendigen Auslagen trägt die Landeskasse Berlin.
Gründe
Das Amtsgericht Tiergarten hat den Angeklagten am 28. April 2016 wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von acht Monaten, deren Vollstreckung es zur Bewährung ausgesetzt hat, verurteilt. Das Landgericht Berlin hat über die Berufung des Angeklagten gegen dieses Urteil zu entscheiden. Der Termin zur Durchführung der Berufungshauptverhandlung ist auf den 8. Februar 2017 bestimmt.
Den Antrag des Angeklagten vom 22. November 2016, ihm Rechtsanwalt Sch als Verteidiger beizuordnen, hat der Vorsitzende der Berufungskammer durch Beschluss vom 25. November 2016 abgelehnt. Der hiergegen erhobenen Beschwerde des Angeklagten vom 2. Dezember 2016 hat der Vorsitzende mit Beschluss vom 8. Dezember 2016 nicht abgeholfen. Die Generalstaatsanwaltschaft Berlin hat mit ihrer am 28. Dezember 2016 eingegangenen Zuschrift vom 22. Dezember 2016 beantragt, der Beschwerde stattzugeben.
Das Rechtsmittel des Angeklagten hat Erfolg.
1. Die Beschwerde ist nach § 304 Abs. 1 StPO zulässig und insbesondere nicht durch § 305 Satz 1 StPO ausgeschlossen, da die Ablehnung der Bestellung eines Verteidigers Rechtswirkungen entfaltet, die über die bloße Vorbereitung des späteren Urteils hinausgehen (vgl. OLG Hamburg StraFo 2000, 383; OLG Brandenburg OLG-NL 2003, 261; Senat, Beschluss vom 22. August 2016 - 4 Ws 121/16 -; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 59. Aufl., § 141 Rn. 10a).
2. Das Rechtsmittel ist auch begründet.
a) Dem Angeklagten ist gemäß § 140 Abs. 2 StPO wegen der "Schwere der Tat" ein Verteidiger beizuordnen. Die Schwere der Tat beurteilt sich vor allem nach der zu erwartenden Rechtsfolgenentscheidung. Nach inzwischen gefestigter Rechtsprechung ist die Beiordnung eines Pflichtverteidigers in der Regel geboten, wenn dem Angeklagten die Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe droht, die mindestens im Bereich von einem Jahr liegt (vgl. OLG Naumburg StV 2013, 433; KG StV 1982, 412; Senat NStZ-RR 2013, 116; Laufhütte in KK-StPO, 7. Auflage, § 140 Rn. 21; Lüderssen/Jahn in LR-StPO 26. Aufl., § 140 Rn. 57; Meyer-Goßner/Schmitt aaO., § 140 Rn. 23, jeweils mwN).
aa) Zwar ist gegen den Angeklagten erstinstanzlich eine solche Freiheitsstrafe nicht verhängt worden, und infolge des in der Berufungsinstanz zu beachtenden Verschlechterungsverbotes muss er auch nicht mit einer ungünstigeren Rechtsfolge rechnen.
Neben der dem Angeklagten hier drohenden Strafe sind wegen der bei § 140 Abs. 2 StPO stets erforderlichen Gesamtbewertung aber auch sonstige schwerwiegenden Nachteile zu berücksichtigen, die er infolge der drohenden Verurteilung zu gewärtigen hat (vgl. OLG Hamm StV 2004, 586). Die Grenze der Straferwartung um ein Jahr Freiheitsstrafe ist deshalb auch dann zu beachten, wenn ihr Erreichen oder Überschreiten erst infolge einer zu erwartenden Gesamtstrafenbildung in Betracht kommt.
Entgegen der Auffassung des Vorsitzenden der Berufungskammer ist bei der Betrachtung der Gesamtwirkung der drohenden Strafe der Blick nicht auf solche Verfahren beschränkt, in denen eine gesamtstrafenfähige andere Strafe bereits rechtskräftig geworden ist. Diese Auffassung, die von der im Nichtabhilfebeschluss zum Ausdruck gebrachten Bewertung getragen ist, die Berücksichtigung nur zu erwartender (also noch nicht rechtskräftig verhängter) gesamtstrafenfähiger Strafen führe zu "einem bei Mehrfachtätern - auch aus fiskalischer Sicht - nicht hinnehmbaren Ausufern des Instituts der notwendigen Verteidigung", wird dem Grund und Wesen der notwendigen Verteidigung nicht gerecht. Die Vorschriften der Strafprozessordnung über die Bestellung eines Verteidigers konkretisieren das Rechtsstaatsprinzip in seiner Ausgestaltung als Gebot fairer Verhandlungsführung. Der Beschuldigte muss die Möglichkeit haben, zur Wahrung seiner Rechte auf den Gang und das Ergebnis des Verfahrens Einfluss zu nehmen. Dazu gehört auch, dass ein Beschuldigter, der die Kosten eines gewählten Verteidigers nicht aufzubringen vermag, in schwerwiegenden Fällen von Amts wegen und auf Staatskosten einen rechtskundigen Beistand erhä...