Leitsatz (amtlich)

1. Bei der Beurteilung der Schwere der Tat im Sinne des § 140 Abs. 2 StPO sind weitere gegen den Beschuldigten anhängige Verfahren, hinsichtlich derer eine Gesamtstrafenbildung in Betracht kommt, zu berücksichtigen.

2. Drohen dem Angeklagten in mehreren Parallelverfahren jeweils Strafen, die gesamtstrafenfähig sind und deren Summe voraussichtlich eine Höhe erreicht, die das Merkmal der Schwere der Tat im Sinne des § 140 Abs. 2 StPO begründet, ist im Regelfall die Verteidigung in jedem dieser Verfahren notwendig.

 

Verfahrensgang

LG Berlin (Entscheidung vom 01.06.2016; Aktenzeichen (575) 282 AR 256/15 Ns (131/15))

 

Tenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Berlin vom 1. Juni 2016 mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten der Revision - an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

 

Gründe

Das Amtsgericht hat den Angeklagten wegen vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis in drei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sieben Monaten verurteilt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt und eine Sperrfrist für die Erteilung einer Fahrerlaubnis von 12 Monaten festgesetzt. Auf die gegen dieses Urteil gerichtete und auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkte Berufung der Amtsanwaltschaft Berlin hat das Landgericht das angefochtene Urteil dahingehend abgeändert, dass die Strafaussetzung zur Bewährung entfällt.

Die dagegen gerichtete Revision des Angeklagten, mit der die Verletzung sachlichen Rechts gerügt und das Verfahren beanstandet wird, hat (vorläufigen) Erfolg.

Das angefochtene Urteil ist auf die zulässig erhobene Verfahrensrüge der Verletzung von § 338 Nr. 5 StPO aufzuheben. Ein Eingehen auf die Sachrüge bedarf es nicht. Der Verteidiger rügt, dass die Berufungshauptverhandlung ohne Anwesenheit eines Verteidigers stattgefunden hat, obwohl ein Fall der notwendigen Verteidigung nach § 140 Abs. 2 StPO gegeben war.

Es kann dahinstehen, ob, wie in der obergerichtlichen Rechtsprechung teilweise vertreten wird (vgl. u. a. OLG Karlsruhe, Beschluss vom 20. März 2001 - 1 Ss 259/00 - mit weiteren Nachweisen - in juris -), allein eine zu Ungunsten des Angeklagten eingelegte Berufung der Amts- oder Staatsanwaltschaft mit dem Ziel des Wegfalls einer Strafaussetzung zur Bewährung grundsätzlich einen Fall notwendiger Verteidigung im Sinne von § 140 Abs. 2 StPO begründet (so auch der 4. Strafsenat des Kammergerichts, Beschluss vom 12. August 2013 - (4) 161 Ss 173/13 (191/13) - in juris). Jedenfalls die Schwierigkeit der Rechtslage begründet in derartigen Fällen regelmäßig keinen Fall der notwendigen Verteidigung, weil es sich, worauf das OLG Dresden (Urteil vom 1. Juli 2005 - 2 Ss 173/05 - in juris) zu Recht hinweist, bei der Frage, ob eine Strafaussetzung zur Bewährung nach § 56 StGB in Betracht kommt, regelmäßig nicht um eine Rechtsfrage handelt, sondern um die Würdigung der zu dieser Frage festgestellten Tatsachen im Rahmen einer Prognoseentscheidung.

Ein Fall notwendiger Verteidigung kann daher nur vorliegen, wenn die Rechtslage wegen anderweitiger Umstände schwierig ist, oder wegen der Schwierigkeit der Sachlage oder Schwere der Tat die Mitwirkung eines Verteidigers im Einzelfall geboten erscheint.

Hier war die Mitwirkung eines Verteidigers unter dem Gesichtspunkt der Schwere der Tat geboten. Diese ist vor allem nach der zu erwartenden Rechtsfolgenentscheidung. zu beurteilen. Nach überwiegender Ansicht gibt eine Straferwartung ab etwa einem Jahr in der Regel Anlass zur Mitwirkung eines Verteidigers (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 59. Aufl., § 140 Rn.23 m.N.).

Bei der Beurteilung der Schwere der Tat im Sinne von § 140 Abs. 2 StPO ist nicht nur auf die Rechtsfolgenentscheidung des in Rede stehenden Verfahrens, sondern auch auf sonstige erhebliche Auswirkungen der verhängten Sanktion auf den Angeklagten abzustellen. Die Grenze von etwa einem Jahr gilt deswegen auch dann, wenn sie durch eine erforderliche Gesamtstrafenbildung erreicht wird. Dabei kommt es nicht darauf an, ob bereits rechtskräftig verhängte Strafen eine Gesamtstrafenbildung erforderlich machen. Der Senat teilt die vom OLG Hamm vertretene Ansicht, dass bei der Beurteilung der Schwere der Tat i.S.d. § 140 Abs. 2 StPO auch weitere anhängige Verfahren zu berücksichtigen sind, die im Falle einer rechtskräftigen Verurteilung des Angeklagten gesamtstrafenfähig sind (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 20. November 2003 - 2 Ws 279/03 -; ebenso OLG des Landes Sachsen-Anhalt, Urteil vom 22. Mai 2013 - 2 Ss 65/13 - beide in juris). Ein schwerwiegender mittelbarer Nachteil kann sich überdies auch daraus ergeben, dass als Folge der Verurteilung der Widerruf einer Strafaussetzung zur Bewährung in anderer Sache droht (vgl. Senat, Beschluss vom 20. September 2001 - 3 Ws 419/01 - in juris).

Aus den Urteilsgründen, auf die der Senat aufgrund der erhobenen Sachrüge auch für die Verfahrensrüge zurückgreifen kann, ergibt sich hier in Zusammenhang mit dem Revisionsv...

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