Leitsatz (amtlich)
1. Zur Beurteilung des dringenden Tatverdachts im Beschwerdeverfahren nach erstinstanzlichem Urteil.
2. Für die im Rahmen der Fluchtgefahr zu beurteilende Straferwartung kommt es auf den tatsächlich zu erwartenden Freiheitsentzug an; eine Reststrafaussetzung gemäß § 57 StGB ist hierbei zu berücksichtigen, wenn sie im Einzelfall wahrscheinlich bzw. konkret zu erwarten ist.
3. Das besondere Beschleunigungsgebot in Haftsachen beansprucht grundsätzlich auch in Fällen Geltung, in denen die Untersuchungshaft nicht vollzogen wird, weil sich der Angeklagte in anderer Sache in Strafhaft befindet und für das anhängige Verfahren lediglich Überhaft notiert ist. Der Umstand, dass der Haftbefehl nicht vollzogen wird, hebt das Beschleunigungsgebot nicht auf, schwächt es aber ab. Der Maßstab für die Beurteilung des Gewichts von Verzögerungen verschiebt sich und die Anforderungen an die beschleunigte Verfahrensführung sind weniger streng, weil eine völlige Gleichstellung angesichts der geringeren Eingriffswirkung, d.h. der Tatsache, dass ein in anderer Sache inhaftierter, rechtskräftig verurteilter Straftäter von der Untersuchungshaft nicht in derselben Weise betroffen ist wie der als unschuldig geltende Gefangene, bei dem allein diese vorläufige staatliche Zwangsmaßnahme vollzogen wird, nicht sachgerecht ist.
4. Für die Frage, ob der Grundsatz der Beschleunigung bei der Durchführung der Hauptverhandlung ausreichend beachtet wurde, ist nicht eine ausschließlich retrospektive Beurteilung des tatsächlichen Verhandlungsablaufs und gar eine rein rechnerische Betrachtung der Hauptverhandlungszeiten entscheidend. Auch hinsichtlich der Dauer der einzelnen Sitzungen kommt es vielmehr grundsätzlich auf die Planung der Hauptverhandlung durch das Gericht an. Dem Einflussbereich des Gerichts entzogene Umstände können den Verlauf umfangreicher Hauptverhandlungen mit zahlreichen Beteiligten maßgeblich bestimmen sowie erheblich verzögern, weshalb nachträgliche, rein rechnerische Überlegungen zur tatsächlichen (Netto-) Verhandlungszeit ohne die Betrachtung der konkreten Verfahrensabläufe in der Hauptverhandlung im Regelfall nicht überzeugend sind. Haben einzelne Verfahrensbeteiligte durch ihr Prozessverhalten dazu beigetragen, dass die Verhandlungsdichte im Verlaufe einer länger dauernden Hauptverhandlung absinken musste, erscheint es widersprüchlich, wenn sie dem Gericht nachträglich vorhalten, sich unter Beschleunigungsaspekten falsch verhalten zu haben.
5. Das verfassungsrechtliche Beschleunigungsgebot erfasst das gesamte Strafverfahren und gilt demgemäß auch nach dem Urteilserlass; Verzögerungen nach dem erstinstanzlichen Urteil fallen aber geringer ins Gewicht.
Verfahrensgang
LG Berlin (Entscheidung vom 10.01.2014; Aktenzeichen (506) 254 Js 48/11 KLs (6/12)) |
Tenor
1. Die Beschwerde des Angeklagten gegen den Haftfortdauerbeschluss des Landgerichts Berlin vom 10. Januar 2014 wird verworfen.
2. Der Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.
Gründe
Das Landgericht hat den Angeklagten durch Urteil vom 5. Juni 2013 wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge (annähernd 36 Kilogramm eines Kokaingemisches mit einem Wirkstoffgehalt von 26,7 Kilogramm Kokainhydrochlorid) in Tateinheit mit Beihilfe zur unerlaubten Einfuhr dieser Betäubungsmittel aus Brasilien sowie wegen mittelbarer Falschbeurkundung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von acht Jahren und drei Monaten verurteilt. Wegen der Einzelheiten der festgestellten Taten nimmt der Senat auf die schriftlichen Urteilsgründe Bezug. Dem noch nicht rechtskräftigen, von der Staatsanwaltschaft Berlin und dem Beschwerdeführer mit der Revision angefochtenen Urteil ist im Wesentlichen das folgende Verfahren vorausgegangen:
Der Angeklagte wurde am 2. August 2011 vorläufig festgenommen und befand sich aufgrund eines Haftbefehls des Amtsgerichts Tiergarten seit dem 3. August 2011 zunächst bis zum 11. August 2011 in Untersuchungshaft, bevor sich vom 12. August 2011 bis zum 17. Dezember 2013 die Vollstreckung einer Restfreiheitsstrafe anschloss. Dieser Strafvollstreckung lag zugrunde, dass der Angeklagte in dem Verfahren 69 Js 250/05 der Staatsanwaltschaft Berlin nach einer an 101 Sitzungstagen durchgeführten Hauptverhandlung am 16. September 2009 vom Landgericht Berlin wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in zwei Fällen und Urkundenfälschung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt worden war, von der nach Anrechung von Auslieferungs- und Untersuchungshaft noch ein Rest von etwa zwei Jahren und vier Monaten offen war. In jenem Verfahren hatte der Senat im Zeitraum von Dezember 2007 bis Mai 2009 wiederholt Haftentscheidungen zu treffen (4 Ws 161/07, 31/08, 89/08 und 49/09), bevor er den Beschwerdeführer durch Beschluss vom 16. März 2010 (4 Ws 20/10) schließlich vom weiteren Vollzug der Untersuchungshaft verschonte. Die vorliegend abgeurteilten Tatvorwürfe fallen in die Zeit dieser Ha...