Entscheidungsstichwort (Thema)
Rechtsbeschwerde gegen ein Verwerfungsurteil
Leitsatz (amtlich)
1. Hat das Amtsgericht durch die Vorlage eines ärztlichen Attestes konkrete Anhaltpunkte für eine Erkrankung des Betroffenen, deren Auswirkungen seine Teilnahme an der Hauptverhandlung unmöglich oder unzumutbar machen, und sind die behandelnden Ärzte im Attest benannt, wird die Aufklärungspflicht des Gerichts ausgelöst.
2. Hat der Betroffene wegen krankheitsbedingter Verhinderungen an den in der Vergangenheit bestimmten Hauptverhandlungsterminen nicht teilnehmen können und hat das Amtsgericht daher angeordnet, dass der Betroffene im Falle seiner erneuten krankheitsbedingten Verhinderung zum nächsten Termin ein amtsärztliches Attest vorzulegen hat, muss das Gericht den zuständigen Amtsarzt auch über seine Beauftragung durch Übersendung einer Abschrift des gerichtlichen Beschlusses informieren.
3. Kommt das Tatgericht dieser Mitteilungspflicht nicht nach und lehnt der Amtsarzt folgerichtig eine Untersuchung des Betroffenen unter Hinweis auf die fehlende Beauftragung ab, kann die Verwerfung des Einspruchs des Betroffenen im Falle seiner erneuten krankheitsbedingten Verhinderung im Termin nicht (auch) auf das fehlende amtsärztliche Attest gestützt werden.
Normenkette
OWiG § 74 Abs. 2
Verfahrensgang
AG Berlin-Tiergarten (Entscheidung vom 27.07.2020; Aktenzeichen 298 OWi 426/19) |
Tenor
1. Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird das Urteil des Amtsgerichts Tiergarten vom 27. Juli 2020 mit den Feststellungen aufgehoben.
2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde - an das Amtsgericht zurückverwiesen.
Gründe
I.
Der Polizeipräsident in Berlin hat gegen den Betroffenen aufgrund des Bußgeldbescheides vom 12. Februar 2019 wegen der Überschreitung der zulässigen innerörtlichen Geschwindigkeit von 60 Km/h um 32 km/h (nach Toleranzabzug) auf der Bundesautobahn 111 eine Geldbuße von 305 Euro und ein Fahrverbot von einem Monat verhängt. Der Betroffene hat rechtzeitig Einspruch eingelegt. Diverse Hauptverhandlungstermine mussten wegen einer psychischen Erkrankung und damit einhergehenden körperlichen Beeinträchtigungen des Betroffenen kurzfristig aufgehoben werden. Das Amtsgericht hat daher am 9. Juni 2020 beschlossen, den für Wohnsitz des Betroffenen zuständigen Amtsarzt mit einem Kurzgutachten zur Klärung der Verhandlungs- und Reisefähigkeit zu beauftragen und dem Betroffenen zugleich aufgegeben, sich amtsärztlich untersuchen zu lassen, "für den Fall, dass er beabsichtigt, an dem anberaumten Hauptverhandlungstermin (Ergänzung durch den Senat: am 27. Juli 2020) wegen Verhandlungs- und/oder Reiseunfähigkeit nicht teilzunehmen".
Der Betroffene erschien zu dem Hauptverhandlungstermin am 27. Juli 2020 nicht. Das Amtsgericht verwarf den Einspruch, da der Betroffene trotz ordnungsgemäßer Ladung ohne genügende Entschuldigung nicht erschienen sei und führte darüber hinaus in den Gründen aus, dass die eingereichte dem Beschuldigten Verhandlungs- und Reiseunfähigkeit attestierende ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vom 24. Juli 2020 zwar ein Krankheitsbild (gemeint sind wohl die ausgewiesenen Diagnosen F43.2 G und F33.1 G), aber keine (konkrete) Darlegung der Auswirkung der Erkrankung ausweise. Ein solches Attest - so sinngemäß die Urteilsgründe - erfülle auch nicht die erhöhten Anforderungen an seine Entschuldigung, die der Betroffene nach Auffassung des Gerichts nur durch das mit der Ladung erbetene amtsärztliche Attest erfüllen könnte.
Der Verteidiger hat rechtzeitig Rechtsbeschwerde eingelegt, die er auf die Verletzung formellen und sachlichen Rechts stützt.
Zur Begründung trägt er u.a. zur Verhandlungsunfähigkeit des Betroffenen vor:
Der Betroffene sei seit 2019 ernsthaft psychisch erkrankt. Nach der mit dem ärztlichen Attest vom 24. Juli 2020 dem Gericht am selben Tag mitgeteilten Diagnose F 33.1 G leide er an einer rezidivierenden depressiven Störung, die sich durch Angstzustände äußere, die ihm ein Verlassen seines Hauses und das Nutzen seines Fahrzeuges fast unmöglich mache. Die eineinhalbstündige Autofahrt zum Amtsgericht Tiergarten sei ihm nicht zuzumuten. Des Weiteren leide er laut Diagnose F42.2 G an einer Anpassungsstörung als Reaktion auf den Verlust der Lebensgefährtin, die sich dadurch äußere, dass seine Gedanken an das Verlusterleben gebunden seien, welches übrige Lebensereignisse in den Hintergrund treten und bedeutungslos erscheinen lassen. Eine Konzentration auf eine Hauptverhandlung sei dadurch unmöglich. Flankiert werde diese Erkrankung durch eine dauerhafte Schmerzbelastung im Rücken. Bei Berücksichtigung aller Umstände sei dem Betroffenen die Teilnahme an der Hauptverhandlung nicht zuzumuten gewesen.
Diese Umstände seien mit der Richterin in der Hauptverhandlung auch erörtert worden, die die Erkrankung selbst auch nicht, aber ihre konkreten Auswirkungen auf die Verhandlungsfähigkeit des Betroffenen in Frage gestellt habe.
Der Betroffene habe auch die vom Gericht...