Leitsatz (amtlich)

Die zur Entscheidung über die Reststrafenaussetzung berufene Strafvollstreckungskammer hat jedenfalls dann nicht die vorgelagerte nachträgliche Gesamtstrafenbildung abzuwarten, wenn der Halbstrafen- bzw. Zweidrittelzeitpunkt bereits erreicht und nicht ersichtlich ist, dass das Verfahren zur Gesamtstrafenbildung bisher überhaupt eingeleitet worden ist.

 

Verfahrensgang

LG Berlin (Entscheidung vom 19.06.2020)

 

Tenor

Die sofortigen Beschwerden des Verurteilten gegen die gleichlautenden Beschlüsse des Landgerichts Berlin - Strafvollstreckungskammer - vom 19. Juni 2020 werden auf seine Kosten verworfen.

 

Gründe

I.

Das Amtsgericht Kempten hat den Beschwerdeführer am 31. März 2016 - 32 Ls 311 Js 17453/14 - wegen Urkundenfälschung in acht Fällen, in vier Fällen davon in Tateinheit mit gewerbsmäßigem Bandenbetrug, in einem weiteren Fall in Tateinheit mit versuchtem gewerbsmäßigen Bandenbetrug zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten verurteilt, deren Vollstreckung es zunächst zur Bewährung ausgesetzt hat. Die Bewährung ist später rechtskräftig wegen der erneuten Straffälligkeit des Beschwerdeführers in der Bewährungszeit, die Gegenstand der nachfolgend aufgeführten Verurteilungen ist, widerrufen worden. Am 25. März 2019 verhängte das Amtsgericht Tiergarten - (284a Ds) 273 Js 71/17 (8/19) - gegen ihn wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in zwei Fällen eine Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr. Am 15. April 2019 erkannte es - (281 Ds) 3022 Js 10705/18 (15/19) - schließlich gegen den Beschwerdeführer wegen versuchten Diebstahls in vier Fällen auf eine Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr. Alle der Verurteilung vom 15. April 2019 zugrunde liegenden Taten beging der Beschwerdeführer bereits vor der Verurteilung vom 25. März 2019. Eine (nachträgliche) Gesamtstrafe ist bisher nicht gebildet worden.

Gegen den Beschwerdeführer wurden die Strafen aus den Urteilen des Amtsgerichts Tiergarten vom 25. März und 15. April 2019 bereits bis zum jeweiligen Halbstrafenzeitpunkt vollstreckt. Derzeit erfolgt die Vollstreckung der Strafe aus dem Urteil des Amtsgerichts Kempten vom 31. März 2016. Der Halbstrafenzeitpunkt war am 19. Juni 2020 erreicht. Der gemeinsame Zweidrittelzeitpunkt ist auf den 19. Januar 2021 notiert.

Nach mündlicher Anhörung des Verurteilten hat die Strafvollstreckungskammer mit den angefochtenen Beschlüssen die Aussetzung der Vollstreckung der restlichen Freiheitsstrafen zur Bewährung abgelehnt. Hiergegen richten sich die sofortigen Beschwerden des Verurteilten.

II.

Die sofortigen Beschwerden des Verurteilten sind zulässig, insbesondere statthaft (§ 454 Abs. 3 Satz 1 StPO) und rechtzeitig erhoben (§ 311 Abs. 2 StPO); sie haben jedoch in der Sache keinen Erfolg.

1. Die Strafvollstreckungskammer war zu einer Entscheidung nach § 57 Abs. 1, Abs. 2 StGB berufen, obwohl die hinsichtlich der Einzelstrafen aus den Verurteilungen vom 25. März und 15. April 2019 vorzunehmende nachträgliche Gesamtstrafenbildung gemäß § 55 StGB bisher unterblieben ist und obwohl in deren Rahmen bei einer zwei Jahre nicht übersteigenden Gesamtfreiheitsstrafe auch über die Strafaussetzung zur Bewährung gemäß § 56 StGB zu entscheiden wäre. Denn im konkreten Fall wäre ein Abwarten auf die vorgelagerte nachträgliche Gesamtstrafenbildung untunlich gewesen. Ein Handeln der Strafvollstreckungskammer war bereits deshalb veranlasst, weil der Verurteilte (auch) die Entlassung zum Halbstrafenzeitpunkt erstrebte, der für alle zu vollstreckenden Strafen bereits am 19. Juni 2020 erreicht war, und nicht ersichtlich ist, dass das Verfahren zur Gesamtstrafenbildung bisher überhaupt eingeleitet worden ist (vgl. [zum Vorrang des Prüfungsverfahrens nach §§ 57 StGB, 453 StPO bei Überschreitung des Zweidrittelzeitpunktes] OLG Karlsruhe, Beschluss vom 18. September 2017 - 2 Ws 276/17, 277/17 - juris Rn. 14).

2. Der Senat teilt die Ansicht der Strafvollstreckungskammer, dass eine Strafaussetzung zur Bewährung bereits zum Halbstrafenzeitpunkt schon deshalb nicht gewährt werden kann, weil dies unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit nicht zu verantworten ist (§ 57 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB). Die Abwägung aller für und gegen den Verurteilten sprechenden Umstände ergibt, dass es gegenwärtig für eine günstige Prognose an einer tragfähigen Grundlage fehlt.

a) Entscheidend hierfür ist eine Abwägung zwischen den zu erwartenden Wirkungen des erlittenen Strafvollzugs für das künftige Leben des Verurteilten in Freiheit einerseits und den Sicherheitsinteressen der Allgemeinheit andererseits (vgl. BGH, Beschluss vom 25. April 2003 - StB 4/03 - juris Rn. 5; KG, Beschluss vom 30. September 2019 - 2 Ws 157-158/19 - m.w.N.; Senat, Beschluss vom 18. März 2016 - 5 Ws 8/16 -). Denn welches Maß der Wahrscheinlichkeit künftiger Straffreiheit erforderlich ist, hängt von den Eigenheiten der Persönlichkeit des Verurteilten und dem Gewicht der bedrohten Rechtsgüter ab (vgl. OLG Frankfurt, Beschluss vom 11. März 1999 - 3 W...

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