Zur Strafbarkeit der unterlassenen Hilfeleistung

Immer wieder kommt es zu Vorwürfen, wenn Passanten oder Fahrgäste nicht eingreifen, wenn jemand von zusammengeschlagen oder ausgeraubt wird bzw. ein Unfall passiert ist. Eine eigene Gewissensprüfung ergibt nicht immer, dass man selbst eingesprungen wäre. Aber was ist hier, jenseits von Fragen der Moral oder Zivilcourage, rechtlich geboten?

Wenn ein Unfall oder eine Straftat geschieht, ist die Betroffenheit oft groß. Meist allerdings erst, wenn die Medien berichten. Opfer wünschen sich Anteilnahme in der akuten Gefahrenlage, wenn sie "verunfallt" und in hilfloser Lage sind oder von Schlägern bedroht oder verletzt werden. Doch dann sehen Viele weg oder zu, ohne zur Hilfe zu eilen. Wann machen sie sich damit strafbar?

Unterlassene Hilfeleistung, eine schwer zu fassende Straftat

Für jedermann besteht grundsätzlich die Pflicht, bei Unglücksfällen Hilfe zu leisten, soweit sie erforderlich und dem Einzelnen zuzumuten ist. Grundgedanke ist hierbei die Wahrung der gesellschaftliche Solidarität bei Notfällen. Erfolgt diese Ersthilfe nicht, kann dies sowohl strafrechtliche als auch zivilrechtliche Konsequenzen haben. Strafrechtlich droht eine Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder eine Geldstrafe. Doch in der Praxis sind Verurteilungen wegen unterlassener Hilfeleistung selten.

Voraussetzungen der Straftat

Bestraft wird gem. § 323 c StGB

  • wer bei einem Unglücksfall oder einer gemeinen Gefahr oder Not

  • nicht Hilfe leistet, obwohl dies erforderlich

  • und ihm nach den Umständen ohne erhebliche eigene Gefahr zumutbar ist,

  • ohne anderer wichtige Pflichten zu verletzen.

Was ist ein Unglücksfall?

Voraussetzung für eine Strafbarkeit ist das Vorliegen eines Unglücksfalls oder einen gemeinen Gefahr oder Not. Nach der Rechtsprechung des BGH ist ein Unglücksfall ein plötzliches eintretendes Ereignis, das eine unmittelbare Gefahr eines erheblichen Schadens für Menschen oder Sachen von bedeutendem Wert hervorruft oder hervorzurufen droht (BGH, Beschluss v. 10.03.1954, GSSt 4/53). 

Beispiele für Unglücksfälle:

  • Verkehrsunfälle

  • Eine Krankheit, sofern sie sich plötzlich und rasch verschlimmert. Bsp.: Plötzliche Verschlimmerung eines Herzleidens auf einer Busfahrt (OLG Düsseldorf, Beschluss v. 14.11.1994, 5 Ss 330/94)
  • Bewusstlosigkeit nach Selbstmordversuch (BGH, Urteil v. 04.07.1984, 3 StR 96/84)
  • vorsätzliche oder fahrlässige Straftaten
  • Vergewaltigung, BGH, Urteil v. 08.12.1999, 5 StR 532/99), wobei es genügt, dass die Straftat unmittelbar bevorsteht (BGH, Urteil v. 12.01.1993, 1 StR 792/92)
  • Überfall: Wegen unterlassener Hilfeleistung verurteilt wurden vier Taxifahrer, die vor einem Bahnhof einen offensichtlich fremdenfeindlichen Angriff von mehreren Skinheads auf einen dunkelhäutigen Studenten beobachten, bei dem die gewalttätigen Jugendlichen den Ausländer beschimpften, ihn mit Fäusten schlugen und auf den auf den am Boden Liegenden eintraten. Gleichwohl rief keiner der Taxifahrer über Handy oder Funk die Polizei oder hupte auch nur. Dafür verhängte das Gericht Haftstrafen auf Bewährung (OLG Brandenburg, 09.11.2001, 2 Ss 71/00).   
  • Verschlechterung einer Schwangerschaftssituation (OLG Düsseldorf, Beschluss v. 13.01.1995, 1 Ws 1041/94)

Was kein Unglücksfall ist

Nicht jede Körperverletzung ist gleichzeitig ein Unglücksfall (Fahrradsturz), es müssen zumindest erhebliche Gefahren drohen (KG Berlin, Urt. v. 24.11.2000, 1 Ss 330/00)

Auch das dringende Bedürfnis, die Notdurft zu verrichten oder eine normal verlaufende Schwangerschaft (OLG Düsseldorf, Beschluss v. 24.06.1991, 5 Ss 206/91) mit den dabei vorhersehbar auftretenden Schmerzen sind nicht als Unglücksfall anzusehen.

Gemeine Gefahr und gemeine Not

Eine gemeine Gefahr besteht, wenn für die Allgemeinheit eine Notsituation besteht (Naturkatastrophen wie Erdbeben und Überschwemmungen, Brände, toter Radfahrer auf der Fahrbahn etc).

Unter gemeiner Not sind Notlagen der Allgemeinheit von einer gewissen Erheblichkeit, wie Trinkwasserknappheit, zu verstehen.

Erforderlichkeit der Hilfe

Auf die Erfolgsaussichten der Hilfeleistung kommt es dabei grundsätzlich nicht an. Einem Verunglückten muss selbst dann Hilfe geleistet werden, wenn sich aus der Rückschau die befürchtete Folge des Unglücks als von Anfang an als unabwendbar erweist. Lediglich die von vornherein offensichtlich nutzlose Hilfe braucht nicht geleistet zu werden, beispielsweise, wenn bereits der Tod des Opfers eingetreten ist (st. Rspr. vgl. BGH, Urt. v. 20.01.2000, 4 StR 365/99).

Die Hilfspflicht entfällt, wenn der Hilfsbedürftige die Hilfe ablehnt (jedoch nicht in einer psychischen Ausnahmesituation des Bedürftigen) oder wenn bereits andere ausreichende Hilfe geleistet haben. Maßgeblich für die Bewertung ist die ex-ante-Betrachtung (Beurteilung aus früherer Sicht) eines verständigen Beobachters.

Zumutbarkeit

Die Frage der Zumutbarkeit ist immer einzelfallbezogen zu betrachten. Grundsätzlich wird jedoch von dem Einzelnen gefordert, dem verunglückten oder gefährdeten Mitmenschen rasch zu helfen, auch unter Inkaufnahme von körperlichen Gefahren, wenn diese im Verhältnis zu dem drohenden Schaden des Verunglückten gering sind. Zumutbar ist die Hilfeleistung auch dann, wenn die Gefahr der eigenen Strafverfolgung oder eines Angehörigen besteht.

Beispiel: Die Hilfeleistung gegenüber eines Verkehrsunfallopfers ist ebenfalls der mitfahrenden Ehefrau zumutbar, auch wenn sich der den Verkehrsunfall (mit)verursachende Ehemann der Gefahr einer Strafverfolgung aussetzt. Zumindest hätte sie an der nahe gelegenen Tankstelle fernmündlich einen Krankenwagen oder einen Arzt rufen und dadurch sofortige Hilfeleistung veranlassen können, ohne selbst ihren Namen zu nennen, so der BGH (BGH, Urteil v. 14.11.1957, 4 StR 532/57).

Art und Maß der nach § 323 c StGB gebotenen Hilfe richten sich jedoch nicht nur nach Art des Unglücks, sondern auch nach den Fähigkeiten und Möglichkeiten des Helfers. An einen ungeschulten medizinischen Laien werden andere Anforderungen gestellt als an einen Arzt. Nicht zumutbar ist jedenfalls die Hilfeleistung, wenn man sich selbst oder anderen einer erheblichen Gefahr aussetzt oder wichtige andere Pflichten verletzt (z.B. Aufsichtspflicht über kleinere Kinder). Wird man Zeuge eines Überfalls, reicht es oftmals schon aus, um Hilfe zu rufen und die Polizei zu informieren.



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