Leitsatz (amtlich)
1. Bei der Prüfung von Entschuldigungsgründen im Rahmen des § STPO § 412 Satz 1 StPO ist eine weite Auslegung zugunsten des Angeklagten angebracht.
2. Der Begriff der unentschuldigten Säumnis setzt voraus, dass der Angeklagte in objektiver und subjektiver Hinsicht seine Pflicht verletzt hat, für seine Anwesenheit in der Hauptverhandlung Sorge zu tragen. Im Falle eines Pflichtverstoßes sind die Gründe für das Ausbleiben mit der Verpflichtung zum Erscheinen in der Hauptverhandlung abzuwägen.
3. Über die Frage der genügenden Entschuldigung nach § STPO § 412 Satz 1 StPO hat sich das Amtsgericht im Wege des Freibeweises Gewissheit zu verschaffen; dagegen hat das Landgericht im Berufungsverfahren nach Einspruchsverwerfung die Frage der genügenden Entschuldigung des Ausbleibens in der amtsgerichtlichen Verhandlung im Strengbeweiswege zu prüfen neu vorgebrachte Tatsachen und Entschuldigungsgründe zu berücksichtigen.
4. Bei der Prüfung, ob das Gericht den Rechtsbegriff der „nicht genügenden Entschuldigung“ verkannt hat, ist das Revisionsgericht in tatsächlicher Hinsicht an die Feststellungen des angefochtenen Urteils gebunden.
5. Hat das Landgericht die Berufung gegen die Verwerfung des Einspruchs nach § STPO § 412 Satz 1 StPO rechtsfehlerhaft verworfen, so hat das Revisionsgericht beide Urteile aufzuheben und die Sache an eine andere Abteilung des Amtsgerichts zurückzuverweisen.
6. Kann der Angeklagte die Kosten für die Reise zum Gerichtsort nicht aufbringen, so ist sein Ausbleiben nicht entschuldigt, wenn ihm die Möglichkeit der Beschaffung einer Fahrkarte durch das Gericht offenstand, er hierüber durch einen Hinweis in der Ladung informiert oder ihm dies anderweit bekannt war und er einen entsprechenden Antrag nicht gestellt hat. Die fehlerhafte oder unzweckmäßige Sachbehandlung eines Antrags auf Gewährung einer Reiseentschädigung kann das Ausbleiben des Angeklagten unter Umständen entschuldigen.
7. Die nach Ziff. 1.2 der Bestimmungen über die Gewährung von Reiseentschädigungen bewilligten Mittel gehören zu den Kosten des Verfahrens, die der Angeklagte im Verurteilungsfall als Kostenschuldner zu tragen hat.
8. Allein das Vorliegen oder der nachträgliche Eintritt der in § 407 Abs. 1 Satz 1 und 2 normierten Voraussetzungen berechtigt nicht zum nachträglichen Übergang in das Strafbefehlsverfahren nach § STPO § 408a Abs. STPO § 408A Absatz 1 Satz 1 StPO; erforderlich ist vielmehr ein besonderer Übergangsgrund, der solches Gewicht besitzt, dass eine verfahrensabschließende Entscheidung aufgrund einer Hauptverhandlung nicht erreicht werden kann.
Verfahrensgang
LG Berlin (Entscheidung vom 17.04.2019; Aktenzeichen (570) 232 Js 268/18 Ns (40/19)) |
AG Berlin-Tiergarten (Entscheidung vom 17.12.2018) |
Tenor
1. Auf die Revision des Angeklagten werden das Urteil des Landgerichts Berlin vom 17. April 2019 und das Urteil des Amtsgerichts Tiergarten vom 17. Dezember 2018 aufgehoben.
2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten der Revision - an eine andere Abteilung des Amtsgerichts Tiergarten zurückverwiesen.
Gründe
I.
Das Amtsgericht Tiergarten hat nach Eröffnung des Hauptverfahrens gegen den Angeklagten bei der Staatsanwaltschaft Berlin den Übergang in das Strafbefehlsverfahren angeregt, da der Wohnort des Angeklagten mehr als 650 Kilometer vom Gerichtsort entfernt liege. Auf den sodann gestellten Antrag der Staatsanwaltschaft hat das Amtsgericht am 3. Mai 2018 einen Strafbefehl erlassen, mit dem gegen den Angeklagten wegen Widerstandes gegen Vollstreckungsbeamte eine Geldstrafe von 40 Tagessätzen zu je 20 Euro festgesetzt wurde. Gegen diesen ihm am 12. Mai 2018 zugestellten Strafbefehl legte der Angeklagte per Fax am 21. Mai 2018 Einspruch ein. Zu dem daraufhin auf Montag, den 17. Dezember 2018, 8.45 Uhr, anberaumten Hauptverhandlungstermin wurde der Angeklagte am 4. Juni 2018 geladen.
Am 7. Dezember 2018 - einem Freitag - beantragte der Angeklagte mit einem um 21.12 Uhr übermittelten Telefaxschreiben wegen Mittellosigkeit eine Fahrkarte zur Anreise zur Gerichtsverhandlung. Diesen Antrag lehnte das Amtsgericht mit Beschluss vom 11. Dezember 2018 mit der Begründung ab, dass der Angeklagte mehr als sechs Monate Zeit gehabt habe, sich auf die erforderliche Anreise einzustellen und entsprechende Rücklagen für die Fahrt zu bilden. Am 14. Dezember 2018 hielt der Angeklagte telefonisch Nachfrage bei der Geschäftsstelle des Amtsgerichts, woraufhin ihm die dort tätige Justizbeschäftigte den Ablehnungsbeschluss zur Kenntnisnahme vorlas. Der Angeklagte erklärte daraufhin, dass er "gar keine Einkünfte" habe und deshalb auch keine Rücklagen bilden könne. In einem weiteren Telefonat mit dem zuständigen Richter am 17. Dezember 2018 trug der Angeklagte vor, kein Arbeitslosengeld II zu beziehen, und forderte einen neuen Termin.
Die Hauptverhandlung fand jedoch am selben Tag wie geplant statt. Der Angeklagte war nicht erschienen und auch nicht durch einen mit schriftlicher Vollmacht versehenen Verteidiger...