Leitsatz (amtlich)
Zeuge Ö hält im rechten Fahrstreifen hinter dem Klägerfahrzeug, um dem Kläger das Ausparken vom Fahrbahnrand zu ermöglichen. Der Kläger fährt vom Fahrbahnrand nach links auf die Fahrbahn. Der Erstbeklagte fährt mit ca. 45 km/h links am stehenden Pkw des Zeugen Ö vorbei und kollidiert mit der linken Seite des Klägerfahrzeugs.
Wer vom Fahrbahnrand anfährt, hat sich nach § 10 StVO so zu verhalten, dass eine Gefährdung des fließenden Verkehrs ausgeschlossen ist. Kann der vom Fahrbahnrand Anfahrende wegen eines im rechten Fahrstreifen stehenden Pkw nicht übersehen, dass er den fließenden Verkehr nicht gefährdet, so darf er sich vorsichtig auf die Fahrbahn hineintasten bis er die Übersicht hat (entsprechend § 8 Abs. 2 Satz 3 StVO).
Kollidiert ein vom Fahrbahnrand anfahrendes Fahrzeug, dem ein im rechten Fahrstreifen befindlicher Pkw durch sein Anhalten das Anfahren ermöglicht hat, mit einem Fahrzeug des fließenden Verkehrs, das den im rechten Fahrstreifen stehenden Pkw links überholt hat, so haftet der Anfahrende allein, selbst wenn der Überholer dann wieder nach rechts eingeschert ist.
Denn weder wurde der Anfahrende "überholt" i.S.d. § 5 StVO noch liegt ein Überholen in einer unklaren Verkehrslage (§ 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO vor; darüber bezwecken weder Überholverbote noch § 7 Abs. 5 StVO den Schutz vom Fahrbahnrand anfahrender Verkehrsteilnehmer.
(Rücknahme der Berufung)
Verfahrensgang
LG Berlin (Aktenzeichen 17 O 94/08) |
Tenor
Der Senat beabsichtigt, die Berufung durch einstimmigen Beschluss gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurückzuweisen.
Gründe
I. Die Berufung hat keine Aussicht auf Erfolg. Der Senat folgt den zutreffenden Gründen der angefochtenen Entscheidung, die durch die Berufungsbegründung nicht entkräftet werden.
Nach § 513 Abs. 1 ZPO kann die Berufung nur darauf gestützt werden, dass die angefochtene Entscheidung auf einer Rechtsverletzung (§ 546 ZPO) beruht oder nach § 529 ZPO zugrunde zu legende Tatsachen eine andere Entscheidung rechtfertigen. Beides ist nicht der Fall.
a) Zutreffend hat das LG auf die Sorgfaltspflichten beim Anfahren vom Fahrbahnrand (§ 10 StVO) hingewiesen. § 10 StVO ordnet an, dass der Verkehrsteilnehmer, der vom Fahrbahnrand anfahren will, sich so zu verhalten hat, dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist; erforderlichenfalls hat er sich einweisen zu lassen. Vom Anfahrenden wird damit äußerste Sorgfalt gefordert (vgl. Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 38. Aufl., StVO § 10 Rz. 10 m.w.N.).
Diese äußerste Sorgfalt hat der Kläger nicht eingehalten; zutreffend hat das LG auf den gegen ihn sprechenden Beweis des ersten Anscheins hingewiesen, den er nicht erschüttert oder widerlegt hat. Es kann dahinstehen, ob der Kläger tatsächlich Wenden wollte oder nicht, jedenfalls steht nach der Aussage des Zeugen fest, dass der Kläger sich nicht mit größter Sorgfalt in die Fahrbahn hineingetastet hat. Denn "Hineintasten" i.S.d. § 8 Abs. 2 Satz 3 StVO (Pflichten des Wartepflichtigen ggü. dem Bevorrechtigten, die für die hohen Sorgfaltspflichten nach § 10 StVO entsprechend gelten) bedeutet nicht langsam fahren, sondern zentimeterweises Vorrollen bis zum Übersichtspunkt mit der Möglichkeit sofort anzuhalten (BGH NJW 1985, 2757; KG NZV 1999, 85 = KGReport Berlin 1999, 315; Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 38. Aufl., StVO § 8 Rz. 58); das bedeutet ein Vorrollen um jeweils nur wenige Zentimeter, danach ein Anhalten und ein mehrfaches Wiederholen dieses Vorgangs über einen längeren Zeitraum. Der Wartepflichtige genügt dieser Pflicht nicht, wenn er einfach bis zum Übersichtspunkt ohne Unterbrechung vorrollt (vgl. KG KGReport Berlin 2003, 235 = VRS 105, 104 = NZV 2003, 575; KGReport Berlin 2000, 135 = DAR 2000, 260 = NZV 2000, 377 = VM 2000, 67 Nr. 77).
Der vom LG angehörte Kläger hat gerade nicht bestätigt, dass er die ihm beim Anfahren vom Fahrbahnrand obliegenden äußersten Sorgfaltspflichten beachtet hat. Seiner Aussage kann nicht entnommen werden, dass er zentimeterweise bis zum Übersichtspunkt vorgerollt ist mit der Möglichkeit sofort anzuhalten. Seiner Aussage kann auch nicht entnommen werden, dass er jeweils nur um wenige Zentimeter vorgerollt ist, danach angehalten hat und diesen Vorgang über einen längeren Zeitraum mehrfach wiederholt hat. Vielmehr ist der Aussage des Klägers zu entnehmen, dass er, statt sich in den Verkehr hineinzutasten, im Hinblick auf die Lichthupe des Zeugen aus der Parklücke hinausgefahren ist.
Auch aus der Aussage des Zeugen Ö... ergibt sich nicht, dass der Kläger die ihm beim Anfahren vom Fahrbahnrand obliegenden äußersten Sorgfaltspflichten beachtet hat. Vielmehr ergibt sich aus dieser Aussage, dass der Kläger "aus der Parklücke herausgefahren ist". "Hineintasten" i.S.d. § 8 Abs. 2 Satz 3 StVO kann auch dieser Aussage nicht entnommen werden.
b) Gegenüber der Sorgfaltspflichtverletzung des in den Verkehr einfahrenden tritt die Betriebsgefahr des im fließenden Verkehr befindlichen Fahrzeuges im Rahmen der Abwägung nach § 17 Abs. 1 StVO zurück (vgl. KG, V...