Leitsatz (amtlich)

  • 1.

    Vollzugslockerungen sind nicht notwendigerweise Voraussetzung für eine bedingte Entlassung (vgl. BVerfG StV 2003, 677). Vollzugslockerungen sind dann unbedingt erforderlich, wenn der Verurteilte dazu neigt, die Gesetze zu brechen oder zwar guten Willens, charakterlich möglicherweise zu schwach ist, um den außerhalb der Anstalt vorhandenen Versuchungen zu widerstehen. In einem solchen - häufigen - Fall ist es geboten, vor der Bewertung der Prognose als günstig zu probieren, ob und gegebenenfalls wie der Verurteilte seine Neigungen, Straftaten zu begehen, beherrschen kann.

  • 2.

    Die mit dem Beschluß des Bundesgerichtshofs vom 11. Oktober 2005 - 5 ARs (Vollz) 54/05 - (BGHSt 50, 234 = NJW 2006, 306 = StV 2006, 148) wiederhergestellte Rechtmäßigkeit der Doppelbelegung eines in einer vor 1977 gelegenen Anstalt nach 1977 errichteten Neubaus (a.A.: Senat NStZ-RR 1998, 191) darf wegen der resozialisierungsfeindlichen Auswirkungen der Doppelbelegung nicht dazu führen, daß die dadurch absehbar hervorgerufenen Probleme des Gefangenen ihm bei der Entscheidung über die Reststrafenaussetzung zur Last gelegt werden.

 

Verfahrensgang

LG Berlin (Entscheidung vom 31.07.2006; Aktenzeichen 546 StVK 243/06)

StA München I (Aktenzeichen 121 Js 11668/01)

 

Tenor

Die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft München I gegen den Beschluß des Landgerichts Berlin - Strafvollstreckungskammer - vom 31. Juli 2006 wird mit der Maßgabe verworfen, daß die Restfreiheitsstrafe ab dem 20. Oktober 2006 zur Bewährung ausgesetzt wird.

Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die dem Verurteilten in diesem Rechtszug entstandenen notwendigen Auslagen fallen der Staatskasse zur Last.

 

Gründe

Der Verurteilte verbüßt zur Zeit eine Freiheitsstrafe von sieben Jahren wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung aus dem Urteil des Landgerichts München I vom 26. April 2002. Zwei Drittel der Strafe waren am 23. April 2006 vollstreckt; das Strafende ist auf den 23. August 2008 notiert. Mit dem angefochtenen Beschluß hat die Strafvollstreckungskammer die Vollstreckung der Restfreiheitsstrafe ab dem 11. August 2006 für die Dauer von vier Jahren zur Bewährung ausgesetzt. Sie hat den Verurteilten der Aufsicht und Leitung eines Bewährungshelfers unterstellt sowie ihm mit seiner Zustimmung die Weisung erteilt, unmittelbar nach der Entlassung aus der Strafhaft eine ambulante Psychotherapie zu beginnen und deren Aufnahme und Fortführung dem Gericht nachzuweisen. Die gegen die Aussetzung der Vollstreckung gerichtete sofortige Beschwerde ( § 454 Abs. 3 Satz 1 StPO) der Staatsanwaltschaft München I hat keinen Erfolg. Der Senat teilt die Auffassung der Strafvollstreckungskammer, daß dem Verurteilten unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit die für eine vorzeitige Entlassung aus der Strafhaft erforderliche günstige Prognose ( § 57 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB) gestellt werden kann.

1.

Allerdings ist bei Tätern, die - wie der Verurteilte - Gewalt- bzw. Aggressionsdelikte begangen haben, besonders kritisch zu prüfen, ob unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit die Aussetzung der Reststrafe zur Bewährung verantwortet werden kann (vgl. Senat, Beschlüsse vom 21. September 2006 - 5 Ws 363/06 - und vom 6. Dezember 1999 - 5 Ws 651/99 -; std. Rspr.). Gerade Gewalttaten und die Tatgruppe der Delikte gegen die sexuelle Selbstbestimmung haben den Gesetzgeber veranlaßt, mit der Einführung des Begriffs "Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit" in § 57 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB in der Fassung dess Gesetzes zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten vom 26. Januar 1998 (BGBl. I S. 160) den Gerichten aufzugeben, dem Aspekt besonderes Augenmerk zu widmen, daß der Täter sich durch solche Taten als besonders gefährlich erwiesen hat. Die Hervorhebung des Sicherheitsaspekts durch den Gesetzgeber führt zu einer Verstärkung der den Gerichten auferlegten Verantwortung gegenüber der Allgemeinheit (vgl. Senat, Beschluß vom 6. August 2001 - 5 Ws 741/00 -).

Danach kann die kritische Probe in Freiheit - auch dann, wenn der Verurteilte (wie hier) erstmals Freiheitsstrafe verbüßt - nur gewagt werden, wenn tatsächliche Anhaltspunkte es überwiegend wahrscheinlich machen, daß der Verurteilte sie besteht (vgl. Senat, Beschlüsse vom 6. August 2001 - 5 Ws 741/00 - und 28. Juni 2000 - 5 Ws 426/00 -). Das geforderte Maß der Wahrscheinlichkeit einer günstigen Prognose hängt maßgeblich von dem Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsgutes ab (vgl. BVerfG NStZ 2000, 109, 110 ; BGH NStZ-RR 2003, 200; OLG Saarbrücken NJW 1999, 439; OLG Koblenz NStZ 1998, 591 ; OLG Karlsruhe ZfStrVo 1999, 184, 185 - zu § 67 d Abs. 2 StGB). Die Wahrscheinlichkeit einer günstigen Prognose muß folglich bei gegen das Leben gerichteten Verbrechen besonders hoch sein, ohne allerdings ein vertretbares Restrisiko auszuschließen (vgl. BVerfG NStZ 1998, 373, 374 ; OLG Karlsruhe StV 2002, 322; Senat, Beschluß vom 6. August 2001...

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