Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorliegen besonderer Umstände aufgrund des Ergebnisses eines im Vollstreckungsverfahren eingeholten kriminalprognostischen Gutachtens
Leitsatz (amtlich)
Ergibt das kriminalprognostische Gutachten, dass die positive Entwicklung des Verurteilten während des Strafvollzuges erheblich über das Maß hinausgeht, was zur Erstellung einer günstigen Prognose erforderlich ist, kann - insbesondere bei Zusammentreffen mit weiteren Milderungsgründen - auch das Vorliegen besonderer Umstände im Sinne des § 57 Abs. 2 Nr. 2 StGB zu bejahen sein.
Normenkette
StGB § 57 Abs. 2 Nr. 2; StPO § 454 Abs. 2 Nr. 2
Verfahrensgang
LG Berlin (Entscheidung vom 06.12.2022; Aktenzeichen 533 KLs 13/19) |
Tenor
Auf die sofortige Beschwerde der Verurteilten wird der Beschluss des Landgerichts Berlin vom 6. Dezember 2022 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Entscheidung - auch über die Kosten und Auslagen des Beschwerdeverfahrens - an die Strafkammer zurückverwiesen.
Gründe
I.
Das Landgericht Berlin verurteilte die Beschwerdeführerin am 1. Oktober 2021, rechtskräftig seit dem 31. August 2022, wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in drei Fällen, Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in zwei Fällen sowie Beihilfe zum Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in vier Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten. Der Gesamtfreiheitsstrafe lagen mehrere Geld- sowie Einzelfreiheitsstrafen, darunter in einem Fall der Beihilfe zum Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge eine Einzelfreiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten, zugrunde.
Aufgrund des Haftbefehls des Amtsgerichts Tiergarten vom 20. November 2018 war die Beschwerdeführerin am 29. November 2018 festgenommen worden und in Untersuchungshaft gekommen. In der Zeit vom 17. April 2019 bis zum 23. Mai 2019 war die Untersuchungshaft zur Vollstreckung einer Ersatzfreiheitsstrafe unterbrochen. Am 10. November 2020 wurde die Beschwerdeführerin vom weiteren Vollzug der Untersuchungshaft verschont und mit Urteilsverkündung der Haftbefehl aufgehoben. Durch Anrechnung der Untersuchungshaft von insgesamt 676 Tagen ist die Gesamtfreiheitsstrafe um etwas mehr als die Hälfte vollstreckt. Bis zur Vollstreckung von zwei Dritteln der Gesamtfreiheitsstrafe sind noch knapp sechs Monate offen.
Mit Anwaltsschriftsatz vom 3. November 2022 hat die Verurteilte beantragt, die Restfreiheitsstrafe gemäß § 57 Abs. 2 Nr. 2 StGB zur Bewährung auszusetzen und angeregt, gemäß § 454 Abs. 2 StPO einen Sachverständigen zu beauftragen. Mit dem angefochtenen Beschluss vom 6. Dezember 2022 hat die Strafkammer die Aussetzung der Vollstreckung der restlichen Freiheitsstrafe zur Bewährung abgelehnt. Die Kammer stützt sich darauf, dass keine besonderen Umstände vorlägen und die Einholung eines Sachverständigengutachtens vor diesem Hintergrund entbehrlich sei. Hiergegen wendet sich die Verurteilte mit ihrer sofortigen Beschwerde.
II.
Die sofortige Beschwerde ist zulässig, insbesondere statthaft (§ 454 Abs. 3 Satz 1 StPO) und rechtzeitig erhoben (§ 311 Abs. 2 StPO). Sie hat auch (zumindest vorläufig) Erfolg. Zwar war die 33. Strafkammer des Landgerichts Berlin gemäß § 462a Abs. 2 Satz 1 StPO zur Entscheidung über die Strafrestaussetzung gemäß § 57 Abs. 2 Nr. 2 StGB berufen, da sich die Beschwerdeführerin bislang in diesem Verfahren nicht in Strafhaft befunden hat. Die angefochtene Entscheidung leidet aber an einem wesentlichen Verfahrensfehler, der zu ihrer Aufhebung und zur Zurückverweisung der Sache führt. Denn anders als von der Strafkammer angenommen, liegt hier kein Fall vor, in dem eine Strafaussetzung erst gar nicht erwogen werden muss und deshalb die Einholung eines Sachverständigengutachtens entbehrlich ist.
1. Nach § 454 Abs. 2 Nr. 2 StPO hat das Gericht das Gutachten eines Sachverständigen einzuholen, wenn es erwägt, die Vollstreckung des Restes einer zeitigen Freiheitsstrafe von mehr als zwei Jahren, die wegen einer Straftat der in § 66 Abs. 3 Satz 1 StGB bezeichneten Art ausgesprochen wurde, auszusetzen und nicht auszuschließen ist, dass Gründe der öffentlichen Sicherheit einer vorzeitigen Entlassung der Verurteilten entgegenstehen. Damit löst nicht jede Prüfung, ob der Rest einer Freiheitsstrafe zur Bewährung auszusetzen ist, die Pflicht zur Begutachtung eines Verurteilten aus. Das Sachverständigengutachten soll es dem Gericht ermöglichen, die von dem Verurteilten ausgehende Gefahr für die Allgemeinheit im Falle einer beabsichtigten Strafrestaussetzung zur Bewährung zuverlässig einschätzen zu können. Wenn aufgrund besonderer Umstände des Einzelfalls eine Aussetzung der Reststrafe offensichtlich nicht in Betracht kommt, ist eine Beurteilung der von dem Verurteilten ausgehenden Gefahr mit Hilfe eines Sachverständigengutachtens nicht erforderlich (Graalmann-Scheerer in: Löwe-Rosenberg StPO 26. Aufl,. § 454 Rdnr. 54). Ebenso kann die Einholung eines Sachverständigengutachtens ausnahmsweise entbehrlich...