Leitsatz (amtlich)
1. § 143 Abs. 2 Satz 1 StPO durchbricht den Grundsatz, dass die Bestellung eines Pflichtverteidigers regelmäßig erst mit der Rechtskraft der das Strafverfahren abschließenden Entscheidung endet.
2. Zuständig für die Zurücknahme der Bestellung nach § 143 Abs. 2 Satz 1 StPO ist der Vorsitzende des jeweils zur Entscheidung berufenen Gerichts.
3. Die Aufhebung der Bestellung nach § 143 Abs. 2 Satz 1 StPO steht im Ermessen des Gerichts. Ein Ermessensspielraum besteht auch in den Fällen des § 143 Abs. 2 Satz 2 StPO. Die als Ausnahme hierzu konzipierten Soll-Vorschriften in § 143 Abs. 2 Satz 3 und Satz 4 StPO gelten für die Sonderfälle einer Entlassung des Beschuldigten nach einem Freiheitsentzug gemäß § 127b Abs. 2, § 230 Abs. 2 oder § 329 Abs. 3 StPO oder nach einer Vorführung im Sinne des § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO und sind einer erweiternden Auslegung regelmäßig nicht zugänglich.
4. Den Beschlussgründen muss zu entnehmen sein, dass sich das Gericht des ihm eröffneten Ermessensspielraums bewusst war und dass es sein Ermessen unter Berücksichtigung der im Einzelfall maßgeblichen Gesichtspunkte ausgeübt hat.
5. Bei der Ermessensentscheidung nach § 143 Abs. 2 Satz 2 StPO ist zu prüfen, ob die früheren, mit der Inhaftierung verbundenen Einschränkungen des Beschuldigten hinsichtlich seiner Verteidigungsmöglichkeiten fortbestehen oder (ausnahmsweise) entfallen sind. Für die Ermessensentscheidung können insbesondere die Dauer der Inhaftierung, der zur Vorbereitung der Verteidigung zur Verfügung stehende Zeitraum und die im Rahmen des § 140 Abs. 2 StPO zu berücksichtigenden Umstände eine Rolle spielen.
6. Dem Beschuldigten ist bei Aufhebung der Bestellung genügend Zeit zu lassen, sich gegebenenfalls um einen Wahlverteidiger zu bemühen.
7. Vor der Entscheidung über die Aufhebung der Bestellung sind die Staatsanwaltschaft sowie der Angeklagte und sein Verteidiger anzuhören.
Verfahrensgang
LG Berlin (Entscheidung vom 23.03.2020; Aktenzeichen (560) 265 Js 143/19 Ns (21/20)) |
Tenor
1. Auf die sofortige Beschwerde des Angeklagten wird der Beschluss des Vorsitzenden der 60. kleinen Strafkammer des Landgerichts Berlin vom 23. März 2020 aufgehoben.
2. Die Sache wird zur erneuten Entscheidung - auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens - an den Vorsitzenden der Strafkammer zurückverwiesen.
Gründe
I.
1. Dem Beschwerdeführer werden mit Anklagen der Amtsanwaltschaft Berlin vom 26. Oktober 2018 und vom 9. November 2018 eine Sachbeschädigung und eine gefährliche Körperverletzung sowie mit Anklage der Staatsanwaltschaft Berlin vom 1. Februar 2019 ein Verstoß gegen Weisungen während der Führungsaufsicht zur Last gelegt. Nach Verbindung der Verfahren zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung erließ das Amtsgericht Tiergarten - Strafrichter - gegen den Beschwerdeführer, dessen Aufenthaltsort nicht ermittelt werden konnte, am 17. Mai 2019 einen auf den Haftgrund der Flucht gestützten Haftbefehl und stellte das Verfahren nach § 205 Satz 1 StPO vorläufig ein. Gegen den Beschwerdeführer bestand außerdem ein Vollstreckungshaftbefehl über eine Ersatzfreiheitsstrafe von 100 Tagen. Am 25. September 2019 wurde der Beschwerdeführer festgenommen. Mit Beschluss von demselben Tag bestellte ihm das Amtsgericht Tiergarten gemäß § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO Rechtsanwalt H. zum Pflichtverteidiger. Am 3. Dezember 2019 verurteilte das Amtsgericht Tiergarten den Beschwerdeführer wegen Sachbeschädigung, vorsätzlicher Körperverletzung und Verstoßes gegen Weisungen während der Führungsaufsicht zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von acht Monaten, deren Vollstreckung es nicht zur Bewährung aussetzte. Zugleich hob es den Haftbefehl vom 17. Mai 2019 auf und erteilte insoweit eine Entlassungsanordnung. Der Beschwerdeführer hat das Urteil mit dem Rechtsmittel der Berufung angefochten, die er nicht beschränkt hat und über die noch nicht entschieden ist. Nach Vollstreckung der vorgenannten Ersatzfreiheitsstrafe - die teilweise durch Zahlung der zugrundeliegenden Geldstrafe erledigt wurde - bis zum 4. Dezember 2019 ist der Beschwerdeführer an diesem Tag aus der Haft entlassen worden.
2. Mit dem hier angefochtenen Beschluss hat der Vorsitzende der Berufungskammer die Bestellung von Rechtsanwalt H. zum Pflichtverteidiger nach § 143 Abs. 2 StPO aufgehoben. Zur Begründung hat er lediglich darauf abgestellt, der Beschwerdeführer sei aus der Haft entlassen worden; ihm drohe auch im Falle des Widerrufs der ihm durch Urteil des Amtsgerichts Tiergarten vom 30. Mai 2017 - 246a Ds 30/17 - gewährten Strafaussetzung (einer Freiheitsstrafe von drei Monaten) zur Bewährung kein Gesamtstrafübel von einem Jahr oder mehr Freiheitsstrafe.
3. Gegen diesen Beschluss wendet sich der Angeklagte mit der durch seinen bisherigen Pflichtverteidiger erhobenen sofortigen Beschwerde. Er beanstandet, die Notwendigkeit der Verteidigung sei nicht schematisch, sondern im Wege einer Gesamtbetrachtung zu beurteilen. Es sei zu berücksichtigen, dass bei einer verfahrensgegenständlichen Tat "Alkohol und Ko...