Leitsatz (amtlich)
Soweit das Gericht einen Beweisantrag aufgrund eigener Sachkunde ablehnt, muss es in dem den Beweisantrag ablehnenden Beschluss oder in den Urteilsgründen seine Sachkunde plausibel, also verständlich und einleuchtend, machen. Dies gilt vor allem, wenn das Fachwissen regelmäßig nur durch eine besondere, länger andauernde Ausbildung erworben werden kann.
Verfahrensgang
LG Berlin (Entscheidung vom 09.02.2007; Aktenzeichen (564) 63 Js 5571/05 Ns (88/06)) |
Tenor
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Berlin vom 9. Februar 2007 mit den Feststellungen aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten der Revision - an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Gründe
Das Amtsgericht Tiergarten hat den Angeklagten wegen exhibitionistischer Handlungen zu einer Freiheitsstrafe von fünf Monaten verurteilt. Auf die Berufung des Angeklagten hat das Landgericht mit dem angefochtenen Urteil die Vollstreckung der Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt. Die auf die Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützte Revision hat (vorläufigen) Erfolg.
Die Revision dringt mit der Verfahrensrüge durch, das Landgericht habe zu Unrecht den Hilfsbeweisantrag auf Anhörung eines psychiatrisch-psychologischen Sachverständigen zur Frage der Schuldfähigkeit des Angeklagten unter Berufung auf die erforderliche eigene Sachkunde (§ 244 Abs. 4 Satz 1 StPO) abgelehnt.
a)
Ob sich das Tatgericht das Wissen zutraut, welches zur Beantwortung der konkreten Beweisfrage erforderlich ist, entscheidet es nach pflichtgemäßem Ermessen (vgl. BGHSt 12, 18, 20; BGH NStZ 2000, 156 f.; KG, Beschluss vom 29. Januar 1997 - (3) 1 Ss 304/96 (119/96) -). Die Revisionsinstanz muss allerdings nachprüfen können, ob sich aus den Urteilsgründen die genügende Sachkenntnis des Gerichts ergibt, wobei die Anforderungen, die an den Nachweis der eigenen Sachkunde zu stellen sind, sich nach der Schwierigkeit der Beweisfrage, der Art und dem Ausmaß der auf dem fremden Wissensgebiet beanspruchten Sachkunde richten (vgl. BGH, a.a.O.; KG, a.a.O.; Meyer-Goßner, StPO 50. Aufl., § 244 Rdnr. 73 m.w.Nachw.). So ist, wenn das Gericht mehr als Allgemeinwissen in Anspruch nimmt, in dem den Beweisantrag ablehnenden Beschluss oder in den Urteilsgründen seine Sachkunde plausibel, also verständlich und einleuchtend, zu machen, besonders dann, wenn das Fachwissen regelmäßig nur durch eine besondere länger andauernde Ausbildung erworben werden kann (vgl. KG, a.a.O., m.w.Nachw.).
b)
Diesen Anforderungen wird das angefochtene Urteil nicht gerecht.
Die Beurteilung der Frage, ob die Hemmungsfähigkeit des Angeklagten aufgrund seiner festgestellten langjährigen Neigung zu exhibitionistischen Handlungen, die das Landgericht als sexuelle Störung mit Krankheitswert eingeschätzt hat (UA S. 4, 7), vollständig aufgehoben war (§ 20 StGB), gehört nicht zum Allgemeinwissen. Sie erfordert vielmehr Spezialkenntnisse, die im Regelfall die Sachkunde eines Richters übersteigen und nur durch einen psychiatrischen Sachverständigen zutreffend beurteilt werden können.
Aufgrund welcher Umstände die Strafkammer die erforderliche eigene Sachkunde bejaht hat, lässt sich anhand der Urteilsgründe nicht nachvollziehen. Sie enthalten lediglich Ausführungen dazu, aus welchen Gründen die beantragte Beweiserhebung für entbehrlich angesehen worden ist. Auf die eigene Sachkunde ist das Landgericht hingegen nicht eingegangen. Hinreichende Anhaltspunkte dafür, dass die Strafkammer aufgrund regelmäßiger Befassung mit gleich oder ähnlich gelagerten Sachverhalten im Verlauf der Zeit die eigene Sachkunde erlangt hätte, ergeben sich, worauf die Generalstaatsanwaltschaft Berlin zutreffend hingewiesen hat, aus dem Urteil ebenfalls nicht.
Da die Begründung der Ablehnung des Beweisantrags nach alldem unzureichend ist, vermag der Senat nicht zu beurteilen, ob sich das Landgericht die erforderliche Sachkunde zu Recht zugetraut hat und deshalb von der beantragten Beweiserhebung absehen durfte. Auf der rechtsfehlerhaften Ablehnung kann das Urteil auch beruhen, denn es ist nicht auszuschließen, dass das Urteil bei vorheriger Einholung eines Sachverständigengutachtens zugunsten des Angeklagten anders ausgefallen wäre.
Der Senat hebt das angefochtene Urteil auf, ohne dass es der Erörterung der weiteren Rügen bedurfte, und verweist die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung gemäß § 354 Abs. 2 StPO an eine Strafkammer des Landgerichts Berlin zurück.
Fundstellen