Leitsatz (amtlich)
Eine gesetzliche Sonderzuständigkeit nach §§ 72a, 119a GVG ist auch dann begründet, wenn ein unter die Vorschriften fallender Anspruch erst nachträglich durch eine Klageerweiterung oder eine Widerklage in den Rechtsstreit eingeführt wird. Der Grundsatz der perpetuatio fori (§ 261 Abs. 3 Nr. 2 ZPO steht dem nicht entgegen, weil er einen unveränderten Streitgegenstand voraussetzt.
Normenkette
GVG § 72a Abs. 1 S. 1 Nr. 2; ZPO § 36 Abs. 1 Nr. 6, § 261 Abs. 3 Nr. 2
Verfahrensgang
LG Berlin (Aktenzeichen 38 O 74/19) |
LG Berlin (Aktenzeichen 20 O 202/19) |
Tenor
Die Zivilkammern für Streitigkeiten aus Bau- und Architektenverträgen des Landgerichts Berlin werden als funktional zuständige Spruchkörper bestimmt.
Gründe
I. Die Klägerin betreibt ein Architekturbüro. Bei der Beklagten handelt es sich um ein Bauunternehmen. Die Klägerin mietete von einer ... GmbH & Co. KG in einem Rohbau Räume zur Nutzung als Büroflächen an. Am 14. August 2018 schlossen die Parteien einen schriftlichen Mietvertrag (Anlage K 1), mit dem die Klägerin der Beklagten einen Teil der angemieteten Flächen untervermietete. Darüber hinaus vereinbarten die Parteien mündlich, dass der Ausbau der streitgegenständlichen Räumlichkeiten durch die Beklagte erfolgen und die entstehenden Kosten von den Parteien jeweils zur Hälfte getragen werden sollten. Aus zwischen den Parteien streitigen Gründen ist der Ausbau der Räume bis heute nicht fertiggestellt worden. Mit einem
Schreiben vom 23. November 2018 kündigte die Klägerin das Mietverhältnis mit der Beklagten wegen Zahlungsverzugs. Im Gegenzug stellte die Beklagte der Klägerin für die ausgeführten Bauarbeiten mit einer zweiten Abschlagsrechnung vom 24. Mai 2019 einen Betrag von 45.000,00 Euro brutto in Rechnung, nachdem die Klägerin eine erste Abschlagsrechnung bereits bezahlt hatte.
Die hierauf von der Klägerin erhobene Klage auf Räumung und Herausgabe sowie Zahlung des rückständigen Mietzinses ist bei der Zivilkammer 38 des Landgerichts Berlin als allgemeiner Zivilkammer anhängig geworden. Im Laufe des Rechtsstreits hat die Beklagte eine Widerklage erhoben, mit der sie u. a. den Ausgleich der zweiten Abschlagsrechnung vom 24. Mai 2019 für die ausgeführten Bauarbeiten begehrt, worauf die Zivilkammer 38 die Sache über die Eingangsregistratur an die Zivilkammer 20 als im Turnus zuständige Kammer für Streitigkeiten aus Bau- und Architektenverträgen abgegeben hat. Die Zivilkammer 20 hat sich nach Anhörung der Parteien mit einem Beschluss vom 8. Oktober 2019 für funktional unzuständig erklärt und die Sache an die Zivilkammer 38 zurückgegeben. Hierauf hat die Zivilkammer 38 sich - nach der zwischenzeitlich erfolglosen Durchführung eines Güterverfahrens - mit einem Beschluss vom 10. September 2020 ebenfalls für funktionell unzuständig erklärt und die Sache dem Kammergericht zur Bestimmung des zuständigen Spruchkörpers vorgelegt.
II. 1. Das Kammergericht ist gemäß § 36 Abs. 1 ZPO als das im Rechtszug zunächst höhere Gericht zur Entscheidung des Zuständigkeitsstreits berufen. Ferner liegen die Voraussetzungen für eine Zuständigkeitsbestimmung auch der Sache nach vor. Zwar setzt § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO nach seinem Wortlaut voraus, dass sich verschiedene Gerichte (und nicht einzelne Spruchkörper) rechtskräftig für unzuständig erklärt haben. Allerdings ist die Vorschrift entsprechend anwendbar, wenn mehrere Spruchkörper des gleichen Gerichts um ihre Zuständigkeit streiten und die Entscheidung des Kompetenzkonflikts nicht von der Auslegung des Geschäftsverteilungsplans, sondern von einer gesetzlichen Zuständigkeitsregelung abhängt. Dies gilt nach allgemeiner Auffassung auch für die von dem Gesetzgeber neu geschaffenen §§ 72a, 119a GVG (Senat, Beschluss vom 22. März 2018 - 2 AR 11/18, NJW-RR 2018, 212; OLG Frankfurt, Beschluss vom 23. April 2018 - 13 SV 6/18; OLG Nürnberg, Beschluss vom 18. Juni 2018 - 1 AR 990/18 -, MDR 2018, 1015; Zöller/Lückemann, ZPO, 33. Aufl. 2020, § 72a GVG Rn. 2; Klose MDR 2017, 793 [795]).
Darüber hinaus sind auch die weiteren Voraussetzungen für eine obergerichtliche Zuständigkeitsbestimmung nach § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO erfüllt. Insbesondere haben sich die an dem negativen Kompetenzkonflikt beteiligten Spruchkörper jeweils "rechtskräftig" im Sinne von § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO für unzuständig erklärt. Hierfür genügt es, dass die Beschlüsse jeweils den Parteien bekanntgegeben wurden, womit es sich nicht nur um gerichtsinterne Vorgänge handelt (BGH, Beschluss vom 1. Juni 1988 - IVb ARZ 26/88 -, FamRZ 1988, 1256; OLG Dresden, Beschluss vom 14. Dezember 2000 - 10 AR 31/00, OLG-NL 2001,71; Zöller/Schultzky, a. a. O., § 36 Rn. 35 m. w. N.).
2. Als funktional zuständige Spruchkörper sind die Kammern für Streitigkeiten aus Bau- und Architektenverträgen zu bestimmen, weil die Voraussetzungen für eine gesetzliche Sonderzuständigkeit nach § 72a S. 1 Nr. 2 GVG vorliegen. Entsprechend dem an § 348 Abs. 1 Nr. 2 b ZPO angelehnten Wortlaut der Vorschrift erstreckt sich ihr Anwendungsbereich auf Streitigkeite...