Leitsatz (amtlich)
1. Für den Eintritt der Entscheidungsreife eines Vergabenachprüfungsverfahren ist es unschädlich, dass das Akteneinsichtgesuch eines Verfahrensbeteiligten noch unerledigt ist, wenn die Vergabenachprüfungsinstanz ihre Nachprüfungsentscheidung nicht auf Bestandteile der Vergabeakte, der Akte der Vergabekammer oder ihrer eigenen Akte stützt, die dem akteneinsichtssuchenden Verfahrensbeteiligten unbekannt sind.
2. Ein Vergabenachprüfungsverfahren, das darauf gerichtet ist, das Angebot des in der Angebotswertung bestplatzierten Bieters auszuschließen, wird nicht dadurch in der Hauptsache erledigt, dass die Vergabestelle dieses Angebot im Laufe des Verfahrens ausschließt, wenn der bestplatzierte Bieter gegen die Ausschlussentscheidung seinerseits einen Vergabenachprüfungsantrag anhängig macht und über diesen Antrag noch nicht rechtskräftig entschieden ist.
3. Der Senat hält an seiner Auffassung (vgl. Beschl. v. 24.10.2013 - Verg 11/13) fest, dass die Vergabebestimmung "Angebote sind nur für ein separates Los [Los 1 oder Los 2] zulässig. Mehrfachangebote sind nicht zulässig" regelmäßig dahin auszulegen ist, dass die Bewerbung zweier Bietergemeinschaften jeweils auf das eine und auf das andere Los untersagt ist, wenn die Mitglieder der beiden Bietergemeinschaften zumindest teilweise identisch sind (Abgrenzung zu OLG Düsseldorf, vom 28.5.2003 - VII Verg 8/03).
4. Zu einer von den Vergabebestimmungen abweichenden, mündlichen Auskunft der Vergabestelle an einen von mehreren Bietern.
5. Die Vergabenachprüfungsinstanz entscheidet regelmäßig nur darüber, ob Rechtsverletzungen stattgefunden haben und ob insofern erforderliche Maßnahmen anzuordnen sind, ordnet aber nicht ohne Not die Erteilung des Zuschlages zugunsten des Antragstellers an.
6. Bedeutet die teilweise Zurückweisung eines Vergabenachprüfungsantrages keine nennenswerten wirtschaftlichen Abstriche von dem von der Antragstellerin verfolgten Rechtsschutzziel, so sieht die Vergabenachprüfungsinstanz davon ab, der Antragstellerin teilweise Kosten aufzuerlegen.
7.
a) Die von der Vergabekammer den Verfahrensbeteiligten auferlegten Kosten für das Verfahren vor der Vergabekammer sind jedenfalls dann zu erlassen, wenn die Vergabekammer die Aufnahme ihrer Amtstätigkeit mangels personeller Besetzung verweigert hat und das Verfahren vor der Vergabekammer lediglich auf Grund gesetzlicher Fiktion abgeschlossen wird.
b) Der Erlass kann von dem Vergabesenat des OLG ausgesprochen werden.
8. Die Notwendigkeit der Hinzuziehung von Verfahrensbevollmächtigten im Verfahren vor der Vergabekammer (§ 128 Abs. 4 Satz 1 GWB) ist nicht allein deshalb zu verneinen, weil vor der Vergabekammer keine Sachbearbeitung stattfindet, wenn die Verfahrensbeteiligten dies bei Beauftragung der Verfahrensbevollmächtigten nicht wissen mussten.
Verfahrensgang
Vergabekammer des Landes Berlin (Beschluss vom 26.06.2013; Aktenzeichen VK-B2-03/12) |
Tenor
1. Auf die sofortigen Beschwerde der Antragstellerin vom 26.6.2013 wird der - wegen fruchtlosen Ablaufs der gesetzlichen Entscheidungsfrist gem. § 116 Abs. 2 GWB fingierte - nachprüfungsantragsablehnende Beschluss der Vergabekammer des Landes Berlin, 2. Beschlussabteilung (VK-B2-03/13), abgeändert und wie folgt neu gefasst:
Der Antragsgegner wird verpflichtet, über den Zuschlag auf das Los 2 unter Ausschluss des Angebotes der Beigeladenen zu 1) zu entscheiden.
Im Übrigen wird der Vergabenachprüfungsantrag zurückgewiesen.
Im Übrigen wird die sofortige Beschwerde zurückgewiesen.
2. Die Kosten des Verfahrens vor der Vergabekammer und des Beschwerdeverfahrens haben der Antragsgegner zu tragen. Die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen werden nicht erstattet.
3. Die von der Vergabekammer den Verfahrenbeteiligten auferlegten Kosten werden erlassen.
4. Der Gegenstandswert des Verfahrens wird auf bis zu 200.000 EUR festgesetzt.
5. Die Hinzuziehung eines Rechtsanwaltes durch die Antragstellerin und den Antragsgegner im Verfahren vor der Vergabekammer war notwendig.
Gründe
I. Der Antragsgegner schrieb europaweit in zwei Losen Schadstoffsanierungsarbeiten am Gebäude "S...K..." aus. In den Ausschreibungsunterlagen bestimmte er u.a.:
Ziffer VI. 3., Punkt II.1.9 der Auftragsbekanntmachung vom 16.11.2012 (Anlage ASt1):
"Angebote sind nur für ein separates Los [Los 1 oder Los 2] zulässig. Mehrfachangebote sind nicht zulässig";
die in der Auftragsbekanntmachung formularmäßig vorhandene Option "mehrere Lose" hatte der Antragsgegner nicht angekreuzt;
Ziff. 6 der Aufforderung zur Abgabe eines Angebotes vom 19.11.2012 (Anlage ASt2):
"Aufteilung in Lose: Ja, Angebote können abgegeben werden für ein Los"
Die Beigeladene zu 1) bewarb sich für das deutlich größere, streitgegenständliche Los 2 und die Beigeladene zu 2) bewarb sich für das kleinere, nichtstreitgegenständliche Los 1. Die Beigeladene zu 2) unterscheidet sich personell von der Beigeladene zu 1) insofern, als die Beigeladene zu 2) ein zusätzliches, drittes Bietergemeinschaftsmitglied hat, nämlich die S...GmbH. Dieses Unter...