Entscheidungsstichwort (Thema)
Pflichtverteidigung bei Drogenabhängigem
Leitsatz (amtlich)
Ob ein Beschuldigter im Sinne des § 140 Abs. 2 StPO nicht in der Lage ist, sich selbst zu verteidigen, richtet sich nach seinen geistigen Fähigkeiten, seinem Gesundheitszustand und den sonstigen Umständen des Falls.
Bei einem Drogenabhängigen mit polytoxem Abhängigkeitsmuster versteht es sich nicht von selbst, dass er verteidigungsunfähig ist. Als Indiz hierfür wäre es zu bewerten, wenn er unter Betreuung stünde.
Normenkette
StPO § 140 Abs. 2
Verfahrensgang
LG Berlin (Entscheidung vom 29.11.2015; Aktenzeichen (564) 233 Js 3210/14 Ns (204/15)) |
Tenor
Die Beschwerde des Angeklagten gegen den Beschluss der Strafkammervorsitzenden des Landgerichts Berlin vom 29. Dezember 2015 wird verworfen.
Der Angeklagte hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.
Gründe
Das Amtsgericht T. hat den Angeklagten am 15. September 2015 wegen Körperverletzung und wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Monaten verurteilt. Nach den Feststellungen hatte der alkoholisierte und unter dem Einfluss von Rohypnol stehende Angeklagte eine Flasche in Richtung von bei einem Imbissstand stehenden Personen geworfen und danach den Imbissbetreiber, der ihn bis zum Eintreffen der Polizei festhalten wollte, verletzt. Auch bei der Festnahme durch die Polizei hatte er sich gewehrt. Gegen dieses Urteil hat der Angeklagte am 21. September 2015 und damit rechtzeitig Berufung eingelegt und zugleich beanstandet, dass der Zeuge F. nicht zur Hauptverhandlung geladen worden sei. Wenige Tage später ist eine Stellungnahme des Drogenberatungsverbunds "vista" zu den Akten gelangt. Darin heißt es: "Hiermit teilen wir Ihnen mit, dass Herr S. seit dem 29.9.2014 durch unsere Einrichtung beraten und vermittelt wird. Herr S. hält seine Termine in unserer Beratungsstelle zuverlässig ein und arbeitet mit, hinsichtlich seiner Abhängigkeit von Opiaten und Alkohol eine dauerhafte Abstinenz zu erreichen ... Insgesamt zeigt Herr S. ein polytoxes Abhängigkeitsmuster, weshalb es zur Zeit auch schwer fällt, sich um relevante Belange seines täglichen Lebens zu kümmern." Unter dem 2. Dezember 2015 hat der Angeklagte beantragt, einen Pflichtverteidiger für das Berufungsverfahren beizuordnen. Diesen Antrag hat das Landgericht mit der angefochtenen Entscheidung abgelehnt und ausgeführt, die Straferwartung gebiete die Beiordnung nicht, und es sei auch nicht ersichtlich, dass der Angeklagte sich aufgrund seiner Drogenabhängigkeit nicht selbst verteidigen könne.
Hiergegen wendet sich der mittlerweile durch einen Rechtsanwalt verteidigte Angeklagte mit dem Rechtsmittel der Beschwerde. Der Verteidiger führt aus, er habe den Angeklagten in einer Hilfseinrichtung für Drogenabhängige kennengelernt. Der Angeklagte mache den Eindruck eines "alten und schwer kranken Mannes ... im Endstadium einer denkbar schweren multitoxischen Erkrankung".
Das Rechtsmittel ist zulässig, führt aber nicht zum Erfolg. Die Vorsitzende der Strafkammer hat zu Recht davon abgesehen, dem Angeklagten einen Pflichtverteidiger beizuordnen.
1. Ein Fall der notwendigen Verteidigung im Sinne des § 140 Abs. 1 StPO liegt nicht vor. Zudem gebietet weder die Schwere der Tat (§ 140 Abs. 2 Satz 1 Alt. 1 StPO) noch die Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage (§ 140 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 StPO) die Mitwirkung eines Verteidigers; auch ist nicht ersichtlich, dass sich die Angeklagte nicht selbst verteidigen kann (§ 140 Abs. 2 Satz 1 Alt. 3 StPO).
a) Die nach der zu erwartenden Rechtsfolgenentscheidung zu beurteilende Schwere der Tat veranlasst die Beiordnung schon deshalb nicht, weil das Amtsgericht gegen den Angeklagten lediglich eine Gesamtfreiheitsstrafe von vier Monaten verhängt hat. Mit einer schwereren Sanktion muss der Angeklagte wegen des prozessualen Verböserungsverbots (§ 331 StPO) nicht rechnen. Die im Hinblick auf die Straferwartung für die Mitwirkung eines Verteidigers maßgebliche Grenze liegt jedoch bei etwa einem Jahr Freiheitsstrafe (ständige Rechtsprechung des Kammergerichts, vgl. nur Senat, Beschlüsse vom 14. August 2006 - 3 Ws 416/06 -, 19. Dezember 2006 - 3 Ws 615/06 -,17. Januar 2007- 3 Ws 10/07 -, 10. September 2008 - 3 Ws 263/08 -, 11. Juni 2009 - 3 Ws 251/09 -, 29. Juni 2009 - (3) 1 Ss 129/09 (77/09) -, 17. November 2009 - 3 Ws 619/09 - und 14. Dezember 2009 - 3 Ws 697/09 -; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 58. Aufl., § 140 Rn. 23).
b) Auch die Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage veranlasst die Beiordnung eines Pflichtverteidigers hier nicht. Das Verfahren in der Berufungsinstanz birgt keine besonderen Schwierigkeiten. Der Sachverhalt ist einfach gelagert, überschaubar und dem Angeklagten umfassend bekannt.
c) Die Beschwerdeschrift behauptet zwar nicht ausdrücklich, dass der Angeklagte verteidigungsunfähig sei. Im Hinblick auf die Ausführungen zu seinem Erscheinungsbild ist aber ersichtlich, dass dies dargetan werden soll. Auch dieser Einwand gebietet die Beiordnung eines Verteidigers nicht...