Verfahrensgang
AG Berlin-Tiergarten (Entscheidung vom 12.02.2013; Aktenzeichen (255 Cs) 232 Js 261/12 (43/12)) |
Tenor
Auf die Revision der Angeklagten wird das Urteil des Amtsgerichts Tiergarten in Berlin vom 12. Februar 2013 mit den zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten der Revision - an eine andere Abteilung des Amtsgerichts Tiergarten zurückverwiesen.
Gründe
Das Amtsgericht hat die Angeklagte wegen "Verstoßes gegen ausweisrechtliche Pflichten" (§§ 95 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. §§ 3 Abs. 1 und 48 Abs. 2 AufenthG) zu einer Geldstrafe von 60 Tagessätzen zu je zehn Euro verurteilt. Es hat folgende Feststellungen getroffen:
"Die Angeklagte hielt sich am 2. November 2011 um 10.30 Uhr und am 5. Januar 2012 um 17.12 Uhr auf dem S-Bahnhof Baumschulenweg in 12437 Berlin auf, obwohl sie als vietnamesische Staatsangehörige weder über den erforderlichen Reisepass noch über einen Ausweisersatz verfügte, was sie auch wusste, da in ihrer Duldung ausdrücklich vermerkt ist, dass der Inhaber mit dieser Bescheinigung nicht der Pass- oder Ausweispflicht genügt."
Im Rahmen der rechtlichen Würdigung hat das Amtsgericht seine Auffassung dargelegt, die Angeklagte sei nicht entschuldigt gewesen, und hierzu ausgeführt: "Der Gang zur Botschaft zwecks Passbeschaffung war der Angeklagten durchaus zumutbar". Bei der Strafzumessung hat das Amtsgericht neben einem längeren Tatzeitraum auch "die Vorbelastungen" der ausweislich der Feststellungen bislang einmal - durch eine nicht näher bezeichnete Verurteilung vom 8. Dezember 2011 wegen Steuerhehlerei zu einer Geldstrafe von 60 Tagessätzen - bestraften Angeklagten schärfend herangezogen.
Hiergegen wendet sich die Angeklagte mit ihrer zulässigen (Sprung-) Revision, mit der sie allgemein die Verletzung sachlichen Rechts rügt. Das Rechtsmittel hat (vorläufigen) Erfolg. Das Urteil hält rechtlicher Überprüfung nicht stand. Die vom Amtsgericht getroffenen Feststellungen sind lückenhaft, und die Entscheidung ist auch im Übrigen nicht frei von Rechtsfehlern.
1. Die tatrichterlichen Feststellungen tragen den Schuldspruch nicht.
a) Nach § 95 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG, der ein echtes (Dauer-) Unterlassungsdelikt darstellt (vgl. OLG München NStZ-RR 2012, 348), ist strafbar, wer sich entgegen § 3 Abs. 1 i. V. m. § 48 Abs. 2 AufenthG im Bundesgebiet aufhält. § 3 Abs. 1 Satz 1 AufenthG bestimmt, dass Ausländer sich im Bundesgebiet nur aufhalten dürfen, wenn sie einen anerkannten und gültigen Pass oder Passersatz besitzen. Nach § 3 Abs. 1 Satz 2 AufenthG erfüllen sie für den Aufenthalt im Bundesgebiet die Passpflicht auch durch den Besitz eines Ausweisersatzes, d. h. einer mit Angaben zur Person und einem Lichtbild versehen Duldungsbescheinigung (§ 48 Abs. 2 AufenthG, sog. qualifizierte Duldung). Die Erteilung eines Ausweisersatzes setzt wiederum voraus, dass der Ausländer im Besitz einer Aufenthaltsgenehmigung oder Duldung ist und weder einen Pass besitzt noch in zumutbarer Weise einen solchen erlangen kann.
Eine Strafbarkeit eines Ausländers wegen passlosen Aufenthalts gemäß § 95 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG ist danach grundsätzlich dann zu bejahen, wenn er nicht in zumutbarer Weise seinen ausweisrechtlichen Pflichten nach § 48 Abs. 2 und 3 AufenthG nachgekommen ist und daher jedenfalls keinen Anspruch auf Erteilung einer Duldung in Form des Ausweisersatzes hat (vgl. OLG Frankfurt am Main, Beschluss vom 22. August 2012 - 1 Ss 210/12 - [juris]; BayObLG StV 2005, 213; OLG München NStZ-RR 2011, 188 [Ls]), während die Strafbarkeit somit entfällt, wenn ihm ein Anspruch auf Erteilung eines solchen Ersatzpapiers zusteht (vgl. OLG Stuttgart NStZ-RR 2011, 28).
Ein Ausländer kann einen Pass dann nicht in zumutbarer Weise erlangen, wenn ihm von seinen Heimatbehörden ein Pass verweigert wird oder wenn er einen solchen nicht in angemessener Zeit oder nur unter schwierigen Umständen erhalten kann (vgl. BayObLG aaO.; OLG Celle StraFo 2005, 434 [insoweit durch die neuere Entscheidung OLG Celle NStZ 2010, 173 nicht aufgegeben]). Die Kriterien für die Zumutbarkeit von Anstrengungen, einen ausländischen Pass zu erhalten, dürfen dabei nicht zu hoch angesetzt werden. Insoweit gelten für die Zumutbarkeit die Bestimmungen des § 5 Abs. 2 AufenthV entsprechend (vgl. Dienelt in: Renner, Ausländerrecht 9. Aufl., § 48 AufenthG, Rn. 7). Das Zumutbarkeitskriterium soll hierbei lediglich der Nachlässigkeit oder der Bequemlichkeit des Ausländers Rechnung tragen (vgl. OLG Celle StraFo 2005, 434). Diese verwaltungsrechtliche Vorfrage muss der Tatrichter anhand aller ihm bekannten und erforderlichenfalls noch aufzuklärenden Umstände selbst entscheiden. Da im Fall einer Unzumutbarkeit der Passbeschaffung von den Heimatbehörden dem Angeklagten ein Anspruch auf Passersatzpapiere nach § 48 Abs. 2 AufenthG zugewachsen sein kann, ist in diesem Fall für die Strafbarkeit auch von Bedeutung, ob und wann sich der Angeklagte unter Darlegung der Unzumutbarkeitsgründe an die deutschen Behörden mi...