Verfahrensgang
AG Berlin-Tiergarten (Entscheidung vom 31.01.2013; Aktenzeichen (271 Ds) 232 Js 3331/12 (182/12)) |
Tenor
1. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Amtsgerichts Tiergarten in Berlin vom 31. Januar 2013 mit den Feststellungen aufgehoben.
2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten der Revision - an eine andere Abteilung des Amtsgerichts zurückverwiesen.
Gründe
Das Amtsgericht hat den Angeklagten nach seiner Ansicht aus tatsächlichen, in Wahrheit aber aus rechtlichen Gründen von dem Vorwurf freigesprochen, ein Vergehen gegen § 95 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG dadurch begangen zu haben, dass er sich vom 18. Juni 2008 bis zum 8. Februar 2011 im Bundesgebiet aufhielt, ohne einen Pass, Passersatz oder Ausweisersatz zu besitzen.
Das Amtsgericht hat folgende Feststellungen getroffen:
"Der Angeklagte war 2008 nach Deutschland eingereist und hatte einen Asylantrag gestellt, der jedoch am 3.6.2008, unanfechtbar seit dem 17.6.2008, abgelehnt wurde. Zugleich wurde der Angeklagte aufgefordert, Deutschland zu verlassen.
Bei seinem Antrag auf Ausstellung eines Passersatzes am 21.8.2008 gab der Angeklagte der Wahrheit zuwider an, er sei am 22.2.1985 in Hanoi geboren.
Die Ausländerbehörde Berlin erteilte ihm daraufhin am selben Tag eine Duldung für sechs Monate, um zunächst einen Pass zu beschaffen. Sie händigte dem Angeklagten ein Dokument aus, auf dessen Vorderseite steht: "Aussetzung der Abschiebung (Duldung). Kein Aufenthaltstitel! Der Inhaber ist ausreisepflichtig!" Unter "Nebenbestimmungen" heißt es unter anderem: "Erlischt bei Besitz eines zur Ausreise in der Herkunftsstaat berechtigenden Dokumentes. Aufenthalt ist räumlich beschränkt auf das Land Berlin." An anderer Stelle steht: "Der Inhaber genügt mit dieser Bescheinigung nicht der Pass- und Ausweispflicht." Diese Duldung wurde in der Folgezeit stets um ein halbes Jahr verlängert.
Mit Schreiben seines Rechtsanwaltes vom 8.2.2011 ließ der Angeklagte bei der Ausländerbehörde seine Geburtsurkunde vorlegen, aus der sich die zutreffenden Geburtsdaten ergaben: Geburtstag 22.9.1980, Geburtsort Nghe An. Die Duldung des Angeklagten wurde am 19.5.2011 und 15.12.2011 jeweils ohne Änderung der darin enthaltenen Daten verlängert.
Am 9.8.2012 wurde der Angeklagte am Bahnhof Ostkreuz von Polizeibeamten kontrolliert. Aufgrund des Passus "Der Inhaber genügt mit dieser Bescheinigung nicht der Pass- und Ausweispflicht" leiteten sie ein Ermittlungsverfahren gegen ihn ein, das zur Anklage mit dem Vorwurf, der Angeklagte habe sich entgegen § 3 Abs. 1 in Verbindung mit § 48 Abs. 2 des Aufenthaltsgesetzes im Bundesgebiet aufgehalten (führte)."
Das Amtsgericht hat dieses Verhalten als nicht strafbar erachtet. Es ist der Auffassung, die dem Angeklagten erteilte Duldung stehe einer Strafbarkeit nach § 95 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG entgegen. Die Duldung berechtige den Ausländer gerade, sich zumindest für eine gewisse Zeit in Deutschland aufzuhalten. Ihm dürfe dann nicht vorgehalten werden, er befinde sich aus einem anderen Grund - hier nämlich wegen eines Verstoßes gegen die Passpflicht - unberechtigt im Bundesgebiet. Wenn der Duldungsbescheid den ausdrücklichen Hinweis enthalte, der Empfänger erfülle die Passpflicht nicht, so könne jedenfalls ein rechtsunkundiger Ausländer daraus nicht ersehen, dass er ausreisen oder sich einen Pass beschaffen müsse.
Dagegen wendet sich die form- und fristgerecht eingelegte Sprungrevision der Staatsanwaltschaft mit der Sachrüge. Sie hat Erfolg.
Die rechtliche Würdigung des Amtsgerichts hält sachlich-rechtlicher Prüfung nicht stand. Dem Angeklagten wurde zwar eine Duldung erteilt, weil seiner Ausreise vorübergehende Hindernisse entgegenstanden. Dieser Umstand entband den Angeklagten aber nicht von der Passpflicht und steht einer Strafbarkeit nach § 95 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG nicht entgegen.
1. Nach den amtsgerichtlichen Feststellungen hat der Angeklagte den objektiven Tatbestand des § 95 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG, der von der nach der Tatzeit vorgenommenen Gesetzesnovellierung nicht betroffen ist, ersichtlich erfüllt. Denn er hielt sich im Bundesgebiet auf, und er besaß keinen Pass oder Passersatz (§ 3 Abs. 1 AufenthG). Auch über einen Ausweisersatz (§ 3 Abs. 1 iVm § 48 Abs. 2 AufenthG) verfügte der Angeklagte nicht. Die ihm erteilte Bescheinigung über die Aussetzung der Abschiebung (Duldung) entsprach nicht den Anforderungen des § 58 Nr. 1 AufenthVO; sie enthielt folgerichtig den ausdrücklichen Zusatz, sein "Inhaber" erfülle damit nicht die "Pass- und Ausweispflicht".
2. Nach den Feststellungen des Amtsgerichts ist auch nicht die Annahme gerechtfertigt, der Angeklagte habe nicht rechtswidrig oder nicht schuldhaft gehandelt.
a) Der Umstand, dass der Angeklagte über eine Bescheinigung über die Aussetzung der Abschiebung (Duldung) verfügte, beseitigt die durch die Erfüllung des objektiven Tatbestands indizierte Rechtswidrigkeit nicht. Die Duldung führte insbesondere nicht dazu, dass die beständige Verletzung der Passpflicht ...