Entscheidungsstichwort (Thema)
Keine Speicherpflicht für Rohmessdaten
Leitsatz (amtlich)
1. Es gibt keinen Rechtssatz, demzufolge staatlich erhobene Beweise stets vollständig rekonstruierbar sein müssen.
2. Für standardisierte Verfahren der Geschwindigkeitsmessung bedeutet dies, dass die sog. Rohmessdaten für den konkreten Messvorgang nicht stets gespeichert werden müssen.
3. Im theoretisch denkbaren Fall einer Art gezielten staatlichen Beweisrekonstruktionsvereitelung kann etwas anderes gelten.
4. Ein im Hauptverfahren beim Amtsgericht gegen eine Entscheidung der Verwaltungsbehörde angebrachter "Antrag auf gerichtliche Entscheidung" ist in der Regel nicht als ein solcher nach § 62 OWiG, sondern als (Beweis-) Anregung zu behandeln.
Normenkette
StVO § 41 Abs. 1 (Zeichen 274)
Verfahrensgang
AG Berlin-Tiergarten (Entscheidung vom 06.11.2019; Aktenzeichen 324 OWi 339/19) |
Tenor
Die Rechtsbeschwerde des Betroffenen gegen das Urteil des Amtsgerichts Tiergarten vom 6. November 2019 wird nach §§ 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG, 349 Abs. 2 StPO verworfen.
Die Stellungnahme der Verteidigerin vom 23. Januar 2020 lag vor, gab aber zu einer anderen Bewertung keinen Anlass.
Gründe
Der Senat folgt den Ausführungen der Generalstaatsanwaltschaft, welche der Verteidigung bekannt sind. Lediglich ergänzend bemerkt der Senat:
1. Sofern den Ausführungen der Rechtsbeschwerde die Rüge der Verletzung eines fairen Verfahrens oder der Beschränkung der Verteidigung in einem wesentlichen Punkt zu entnehmen sein sollte und damit ein Beweisverwertungsverbot geltend gemacht würde, wäre die Verfahrensrüge nicht den Anforderungen der §§ 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG, 344 Abs. 2 Satz 2 StPO entsprechend erhoben. Denn dem Rechtsmittelvortrag ist nicht zu entnehmen, dass der - verteidigte - Betroffene der Verwertung in der Hauptverhandlung bis zu dem durch §§ 71 Abs. 1 OWiG, 257 Abs. 1 StPO bestimmten Zeitpunkt widersprochen hat (vgl. OLG Düsseldorf NZV 2020, 54 [Volltext bei juris]). So heißt es in der durch die Rechtsbeschwerde in Bezug genommenen Entscheidung des VerfGH Saarland (NZV 2019, 414): "Sind die Ergebnisse des Messverfahrens ... folglich wegen einer verfassungswidrigen Beschränkung des Rechts auf eine wirksame Verteidigung unverwertbar, sind die angegriffenen Entscheidungen aufzuheben". Aus der Bewertung als "unverwertbar" ergibt sich im Grundsatz das Erfordernis eines Widerspruchs.
Mag es auch keinen Rechtssatz geben, dass ein nicht kodifiziertes Beweisverwertungsverbot stets durch einen Widerspruch geltend gemacht werden muss, so liegt doch eine Fallkonstellation, bei der hiervon ausnahmsweise abgesehen werden kann, ersichtlich nicht vor. Die vom BVerfG in einem (Einzel-) Fall erforderte Interessenabwägung (StV 2002, 113) nähme der Senat angesichts des denkbar rigiden Mess- und Eichregimes (mit Konformitätsprüfung, Befundkontrolle, Eichung sowie Toleranzabzügen) hier dahin vor, dass auch bei dem Messverfahren PoliScan FM1 eine fehlende Rekonstruierbarkeit der Messung nicht zu einem von Amts wegen zu beachtenden Beweisverwertungsverbot führt.
Darüber hinaus hat der Senat, wie viele andere Oberlandesgerichte auch (vgl. nur BayObLG VRR 2020, 17 [Volltext bei juris]; OLG Köln DAR 2019 695; OLG Brandenburg, Beschluss vom 20. November 2019 - 1 Ss Owi 381/19 - [bei juris]; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 6. November 2019 - 2 Rb 35 Ss 808/19 - [bei juris]; OLG Oldenburg NdsRpfl 2019, 399; OLG Stuttgart DAR 2019, 697), bereits entschieden, dass es keinen Rechtssatz gibt, demzufolge staatlich erhobene Beweise stets vollständig rekonstruierbar sein müssen. Für standardisierte Verfahren der Geschwindigkeitsmessung bedeutet dies, dass die sog. Rohmessdaten für den konkreten Messvorgang nicht stets gespeichert werden müssen (vgl. Senat, Beschlüsse vom 10. Dezember 2019 - 3 Ws (B) 393/19 - und 2. Oktober 2019 - 3 Ws (B) 296/19 - letzterer grundlegend und unter Bezugnahme auf die Senatsbeschlüsse vom 15. August 2014 - 3 Ws (B) 289/14 - und 15. Mai 2014 - 3 Ws (B) 249/14 -).
Dass im theoretisch denkbaren, aber hier nicht behaupteten oder gar dargelegten Fall einer Art gezielten staatlichen Beweisrekonstruktionsvereitelung etwas anderes zu gelten hätte, ist denkbar und liegt nahe, muss der Senat aber nicht entscheiden.
2. Das Amtsgericht führt zutreffend aus, dass ein nach § 62 OWiG gegen eine Entscheidung der Verwaltungsbehörde gerichteter Antrag auf gerichtliche Entscheidung bei der Behörde anzubringen ist (§§ 62 Abs. 2 Satz 1 OWiG, 306 Abs. 1 StPO). Auf diese Weise kann die Behörde abhelfen (§§ 62 Abs. 2 Satz 1 OWiG, 306 Abs. 2 Halbsatz 1 StPO). Der von der Verteidigung in der Hauptverhandlung angebrachte "Antrag auf gerichtliche Entscheidung" war daher nur als (Beweis-) Anregung zu behandeln.
Der Betroffene hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen (§§ 46 Abs. 1 OWiG, 473 Abs. 1 Satz 1 StPO).
Fundstellen
Dokument-Index HI13851119 |