Leitsatz (amtlich)

1. Die verspätete Vorlage der Akten durch die Staatsanwaltschaft im Rahmen der Sechs-Monats-Prüfung iSd § 121 StPO verpflichtet stets zur besonders kritischen Prüfung der materiellen Voraussetzungen der Haftfortdauer.

2. Die Bestimmungen des § 121 StPO, die der Beschränkung der Dauer der U-Haft vor Erlass des erstinstanzlichen Urteils dienen und dem aus der Verfassung (Art. 20 III GG, Rechtsstaatsprinzip) abzuleitenden Grundsatz der Verhältnismäßigkeit sowie Art. 5 III 1, letzter Teilsatz EMRK Rechnung tragen, begrenzen den Vollzug der U-Haft wegen derselben Tat vor Erlass des erstinstanzlichen Urteils grundsätzlich auf sechs Monate und gestatten nur in beschränktem Umfang Ausnahmen hiervon.

3. Ein Verfahren, in dem U-Haft vollzogen wird, ist daher grundsätzlich binnen sechs Monaten mit einem Urteil abzuschließen. Bereits bei Erlass des Haftbefehls ist zu beachten, ob die Frist eingehalten werden kann.

4. Bei der Beurteilung der Frage, ob besondere Schwierigkeiten oder der besondere Umfang der Ermittlungen oder ein sonstiger wichtiger Grund iSd § 121 I StPO vorliegen, ist nur von den Taten auszugehen, die im Haftbefehl aufgeführt sind und deretwegen die U-Haft vollzogen wird.

5. Der nach § 122 I StPO mit den Akten vorgelegte Haftbefehl bleibt auch dann alleiniger Prüfungsgegenstand, wenn der Haftbefehl auf weitere Taten hätte erweitert werden können, aber nicht erweitert worden ist.

6. Wenn die besondere Schwierigkeit oder der besondere Umfang der Ermittlungen oder ein anderer wichtiger Grund das Urteil noch nicht zulässt, gibt das allein noch keine Berechtigung, den Vollzug der U-Haft über sechs Monate hinaus aufrechtzuerhalten. Das Gesetz fordert vielmehr als weitere Voraussetzung, dass die den Erlass des erstinstanzlichen Urteils hindernden wichtigen Gründe es rechtfertigen, den Freiheitsanspruch des Beschuldigten, der nach dem Willen des Gesetzgebers grundsätzlich zu einer Beendigung des Untersuchungshaftvollzugs (wegen derselben Tat) nach sechs Monaten führt, ausnahmsweise hinter die unabweisbaren Bedürfnisse einer wirksamen Strafrechtspflege zurücktreten zu lassen.

7. Erforderlich ist insoweit eine Überprüfung der Angemessenheit der Haftfortdauer über sechs Monate hinaus im Einzelfall unter Berücksichtigung der Schwere des Eingriffs in die Freiheit des Beschuldigten und seiner Folgen sowie der Bedeutung der Gründe für diesen Eingriff. Die Dauer der U-Haft wird dabei nicht - wie in § 112 I 2 und in § 120 I, Hs. 2 StPO - in ein Verhältnis zu der Bedeutung der Sache und zu der zu erwartenden Strafe oder Maßregel der Besserung und Sicherung gesetzt, sondern in ein Verhältnis zu der Schwierigkeit der Erledigung der Rechtssache und zu anderen wichtigen Gründen. Die Schwere der Tat ist in diesem Zusammenhang ohne Bedeutung. Vielmehr kommt es insoweit darauf an, dass Strafverfolgungsbehörden, Gerichte und Justizverwaltung alle möglichen und zumutbaren Maßnahmen ergriffen haben, um die notwendigen Ermittlungen mit der gebotenen Schnelligkeit abzuschließen und eine gerichtliche Entscheidung über die dem Beschuldigten vorgeworfenen (haftbefehlsgegenständlichen) Taten herbeizuführen. Ein - benannter oder unbenannter - wichtiger Grund rechtfertigt die Haftfortdauer danach nur, wenn der mit seinem Vorliegen verbundenen Verzögerung staatlicherseits nicht entgegengewirkt werden konnte, wenn also alle (zumutbaren) Maßnahmen zur Beschleunigung ergriffen worden sind, dem in Haftsachen von Verfassungs wegen zu beachtenden Grundsatz besonders zügiger Bearbeitung (Beschleunigungsgrundsatz) genügt wurde und das Urteil trotzdem nicht rechtzeitig ergehen kann. Für die Beurteilung dieser Frage ist die Bearbeitungsweise normaler Kriminalbeamter, Staatsanwälte und Richter zu Grunde zu legen.

 

Verfahrensgang

LG Berlin (Entscheidung vom 21.01.2021; Aktenzeichen (544 KLs) 254 Js 147/20 (25/20))

AG Berlin-Tiergarten (Entscheidung vom 17.07.2020; Aktenzeichen (349 Gs) 254 Js 147/20 (1775/20))

AG Berlin-Tiergarten (Entscheidung vom 17.07.2020; Aktenzeichen (349 Gs) 254 Js 147/20 (1780/20))

 

Tenor

Die Haftbefehle des Amtsgerichts Tiergarten in Berlin vom 17. Juli 2020 - (349 Gs) 254 Js 147/20 (1775/20) sowie (349 Gs) 254 Js 147/20 (1780/20) - jeweils in Gestalt des Haftfortdauerbeschlusses des Landgerichts Berlin vom 21. Januar 2021 - (544 KLs) 254 Js 147/20 (25/20) - werden aufgehoben.

 

Gründe

I.

Gegen die Angeklagten xxxxx Dxxxx und xxxxx Dxxxx sowie die Mitangeklagten Kxxxx und Hxxxxx ist das Hauptverfahren vor der 44. großen Strafkammer des Landgerichts Berlin anhängig.

1. Die beiden Angeklagten sind in dieser Sache am 16. Juli 2020 vorläufig festgenommen und sodann aufgrund der Haftbefehle des Amtsgerichts Tiergarten vom 17. Juli 2020 der Untersuchungshaft zugeführt worden, wo sie sich seit diesem Tag ununterbrochen befinden. Die jeweils auf den Haftgrund der Fluchtgefahr gestützten Haftbefehle legen den Angeklagten zur Last, am 16. Juli 2020 mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge unerlaubt Handel getrieben zu haben. ...

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