Entscheidungsstichwort (Thema)

Verfahrensfehlerhafte Einspruchsverwerfung ohne vorherige Entscheidung über den kurz vor dem anberaumten Hauptverhandlungstermin gestellten Entbindungsantrag

 

Orientierungssatz

Orientierungssätze:

1. Die Einschätzung, ob ein Entbindungsantrag mit "offenem Visier", also nicht bewusst oder in rechtsmissbräuchlicher Absicht "versteckt" (vgl. OLG Hamm NStZ-RR 2015, 259) oder "verklausuliert" (vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 25. April 2017 - IV-2 RBs 49/17 -, juris [Gehörsrügefalle-Rechtsprechung]; OLG Oldenburg NJW 2018, 641; OLG Rostock NJW 2015, 1770) eingereicht worden ist, erfordert eine Würdigung aller Umstände des Einzelfalls.

2. Es kommt nicht darauf an, ob der Entbindungsantrag bis zum Erlass der angefochtenen Entscheidung tatsächlich zur Kenntnis des Gerichts gelangt ist.

3. Vor einer Einspruchsverwerfung nach § 74 Abs. 2 OWiG gebietet es die Aufklärungs- bzw. Fürsorgepflicht, dass sich das Gericht bei seiner Geschäftsstelle informiert, ob dort eine Entschuldigungsnachricht des Betroffenen vorliegt.

 

Normenkette

GG Art. 103 Abs. 1; OWiG § 73 Abs. 2, § 74 Abs. 2, § 79 Abs. 3, § 80 Abs. 1, 3; StPO § 344 Abs. 2

 

Verfahrensgang

AG Berlin-Tiergarten (Entscheidung vom 29.09.2021; Aktenzeichen 321 OWi 372/21)

 

Tenor

Auf den Antrag des Betroffenen wird die Rechtsbeschwerde gegen das Urteil des Amtsgerichts Tiergarten vom 29. September 2021 zugelassen.

Auf die Rechtsbeschwerde wird das Urteil aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde - an das Amtsgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

I.

Das Amtsgericht Tiergarten hat in der für den 29. September 2021 um 13.00 Uhr anberaumten Hauptverhandlung den rechtzeitig eingelegten Einspruch des Betroffenen gegen den Bußgeldbescheid des Polizeipräsidenten in Berlin vom 18. Januar 2021, mit dem gegen den Betroffenen wegen Nutzung eines elektronischen Geräts in vorschriftswidriger Weise in Tateinheit mit fahrlässiger Geschwindigkeitsüberschreitung eine Geldbuße in Höhe von 200,00 Euro verhängt worden ist, nach § 74 Abs. 2 OWiG mit der Begründung verworfen, der Betroffene sei der Hauptverhandlung ohne genügende Entschuldigung ferngeblieben.

Zuvor hatte der Verteidiger des Betroffenen mit beim Amtsgericht Tiergarten am 29. September 2021 zwischen 11.22 Uhr und 11.24 Uhr eingegangen Fax Antrag auf Entbindung des Betroffenen von der Präsenzpflicht unter Hinweis darauf, dass der Betroffene die Fahrereigenschaft einräume und sich nicht weiter in der Sache einlasse, und unter Beifügung einer Vertretungsvollmacht gestellt. Über diesen Entbindungsantrag hat das Amtsgericht Tiergarten nicht entschieden. Zu der Hauptverhandlung sind weder der Betroffene noch sein Verteidiger erschienen.

Mit dem Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde macht der Betroffene die Verletzung rechtlichen Gehörs geltend, erhebt die allgemeine Sachrüge und beantragt die Aufhebung des Urteils des Amtsgerichts Tiergarten.

II.

1. Der Senat lässt die Rechtsbeschwerde nach § 80 Abs. 1 Nr. 2 OWiG zu. Das Amtsgericht hat den Anspruch des Betroffenen auf rechtliches Gehör verletzt, indem es seinem Antrag, in der Hauptverhandlung nicht persönlich erscheinen zu müssen, nicht entsprochen hat und seinen Einspruch in der Folge ohne Verhandlung zur Sache nach § 74 Abs. 2 OWiG verworfen hat.

2. Die Verfahrensrüge, das Amtsgericht habe den Antrag des Betroffenen, ihn gemäß § 73 Abs. 2 OWiG von der Pflicht zum persönlichen Erscheinen zu entbinden, übergangen und daher durch die Verwerfung seines Einspruchs nach § 74 Abs. 2 OWiG seinen Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) verletzt, ist in der nach §§ 80 Abs. 3 Satz 3, 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG, 344 Abs. 2 Satz 2 StPO gebotenen Vollständigkeit ausgeführt. Die Verfahrensrüge enthält alle notwendigen Darlegungen (vgl. Senat, Beschluss vom 27. August 2020 - 3 Ws (B) 177/20 -). So hat der Betroffene in der Rechtsmittelschrift vorgetragen, einen Antrag gestellt zu haben, von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen entbunden zu werden. Auch wurde dargelegt, wessen der Betroffene beschuldigt wird, dass der Betroffene seine Fahrereigenschaft einräume, keine weiteren Angaben zur Sache machen werde.

Der sonst im Rahmen einer Gehörsrüge erforderlichen Darlegung, was der Betroffene in der Hauptverhandlung vorgetragen hätte, bedarf es hier nicht, weil er nicht rügt, dass ihm eine Stellungnahme zu entscheidungserheblichen Tatsachen verwehrt worden sei, sondern dass das Gericht den Entbindungsantrag seines Verteidigers nicht ausreichend zur Kenntnis genommen hat (vgl. Senat, Beschlüsse vom 5. Juni 2014 - 3 Ws (B) 288/14 - und vom 8. Juni 2011 - 3 Ws (B) 283/11 -; Brandenburgisches OLG NZV 2003, 432).

3. Die Rüge ist auch begründet, weil das Amtsgericht den Entbindungsantrag rechtsfehlerhaft übergangen hat.

a) Die Voraussetzungen des § 73 Abs. 2 OWiG lagen hier vor.

Nach § 73 Abs. 2 OWiG hat das Gericht den Betroffenen auf seinen Antrag von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen in der Hauptverhandlu...

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