Entscheidungsstichwort (Thema)
Verwerfungsurteil bei wegen unzureichender Gerichtsorganisation unberücksichtigt gebliebenem Entbindungsantrag
Orientierungssatz
Orientierungssätze:
1. Die Entscheidung über einen Entbindungsantrag steht nicht im Ermessen des Gerichts, vielmehr ist es verpflichtet, dem Antrag nachzukommen, sofern die Voraussetzungen des § 73 Abs. 2 OWiG vorliegen.
2. Wenn der nach § 73 Abs. 2 OWiG gestellte Entbindungsantrag erst am Sitzungstag und nur kurz vor dem anberaumten Termin bei Gericht eingeht, darf der Einspruch jedenfalls dann nicht ohne eine vorherige Entscheidung über den Antrag verworfen werden, wenn dieser mit "offenem Visier", also nicht bewusst oder in rechtsmissbräuchlicher Absicht "versteckt" oder "verklausuliert", angebracht worden ist.
3. Regelmäßig ohne Belang ist, ob dem Bußgeldrichter der Entbindungsantrag bekannt war. Entscheidend ist, ob sich der Tatrichter im Rahmen seiner Fürsorge- und Aufklärungspflicht vor Erlass des Verwerfungsurteils bei der Geschäftsstelle vergewissert hat, ob eine Mitteilung über die Verhinderung des Betroffenen vorliegt.
4. Lag der Antrag dem Gericht nicht vor, kommt es darauf an, ob er bei gehöriger gerichtsinterner Organisation unter gewöhnlichen Umständen bei üblichem Geschäftsgang und zumutbarer Sorgfalt zur Bearbeitung hätte zugeführt werden können und müssen.
Normenkette
OWiG § 73 Abs. 2, § 74 Abs. 2
Verfahrensgang
AG Berlin-Tiergarten (Entscheidung vom 30.05.2022; Aktenzeichen 293 OWi 115/22) |
Tenor
1. Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird das Urteil des Amtsgerichts Tiergarten vom 30. Mai 2022 mit den Feststellungen aufgehoben.
2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde - an das Amtsgericht zurückverwiesen.
Gründe
I.
Nachdem der Betroffene gegen den Bußgeldbescheid des Polizeipräsidenten in Berlin Einspruch eingelegt hatte, hat das Amtsgericht Tiergarten eine Hauptverhandlung auf den 30. Mai 2022 anberaumt. In dieser hat es den Einspruch gegen den Bußgeldbescheid verworfen, weil der Betroffene ungeachtet der nachgewiesenen Ladung ohne genügende Entschuldigung ausgeblieben sei, obwohl er von der Verpflichtung zum Erscheinen nicht entbunden worden war.
Zuvor hatte der Verteidiger des Betroffenen mit Schriftsatz vom 29. Mai 2022 beantragt, den Betroffenen von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen im Hauptverhandlungstermin zu entbinden. Der Betroffene räume ein, verantwortlicher Fahrzeugführer gewesen zu sein. Seine wirtschaftlichen Verhältnisse habe er mehrfach mitgeteilt. Weitere Angaben würden nicht erfolgen, weshalb die Anwesenheit des Betroffenen im Hauptverhandlungstermin entbehrlich sei. Diesen Schriftsatz hatte der Verteidiger am 29. Mai 2022 um 16.56 Uhr elektronisch aus einem besonderen Anwaltspostfach an das Amtsgericht Tiergarten übermittelt. Über den Entbindungsantrag hat das Amtsgericht Tiergarten nicht entschieden. Zum Beginn der Hauptverhandlung am 30. Mai 2022 um 13.24 Uhr sind weder der Betroffene noch der von ihm bevollmächtigte Verteidiger erschienen.
Der Betroffene hat gegen das Verwerfungsurteil Rechtsbeschwerde eingelegt. Er rügt die Verletzung des § 74 Abs. 2 OWiG sowie die damit einhergehende Verletzung des Rechts auf rechtliches Gehör. Das Rechtsmittel hat Erfolg.
II.
1. Die Rüge der Verletzung des § 74 Abs. 2 OWiG ist in der nach §§ 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG, 344 Abs. 2 Satz 2 StPO gebotenen Vollständigkeit ausgeführt. Sie enthält die notwendigen Darlegungen, um dem Rechtsbeschwerdegericht die Prüfung zu ermöglichen, ob ein Verfahrensfehler vorliegt, unterstellt, die behaupteten Tatsachen treffen zu.
2. Die Rüge der Verletzung des § 74 Abs. 2 OWiG ist auch begründet, weil das Amtsgericht den Entbindungsantrag übergangen hat.
a. Nach § 73 Abs. 2 OWiG hat das Gericht den Betroffenen auf seinen Antrag von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen in der Hauptverhandlung zu entbinden, wenn er sich zur Sache geäußert oder erklärt hat, er werde sich in der Hauptverhandlung nicht weiter zur Sache äußern, und seine Anwesenheit zur Aufklärung wesentlicher Gesichtspunkte des Sachverhalts nicht erforderlich ist.
Genau diese Erklärungen hat der Betroffene über seinen hierzu bevollmächtigten Verteidiger vor der Hauptverhandlung abgegeben. Die Entscheidung über den Entbindungsantrag steht damit nicht im Ermessen des Gerichts, vielmehr ist es verpflichtet, dem Antrag nachzukommen, sofern - wie im vorliegenden Fall - die Voraussetzungen des § 73 Abs. 2 OWiG vorliegen (vgl. Senat DAR 2022, 217 sowie Beschlüsse vom 1. April 2019 - 3 Ws (B) 103/19 - und vom 11. Dezember 2017 - 3 Ws (B) 310/17 -).
b. Auch dann, wenn der Entbindungsantrag nach § 73 Abs. 2 OWiG erst am Sitzungstag und nur kurz vor dem anberaumten Termin bei Gericht eingeht, darf der Einspruch des Betroffenen gegen den Bußgeldbescheid jedenfalls dann nicht ohne eine vorherige Entscheidung über den Antrag verworfen werden, wenn der Antrag mit "offenem Visier", also nicht bewusst oder in rechtsmissbräuchlicher Absi...