Leitsatz (amtlich)
1. Die Bestellung eines Pflichtverteidigers im Rahmen des § 140 Abs. 2 StPO gilt - abgesehen von den gesetzlich geregelten Ausnahmen nach den §§ 140 Abs. 3 Satz 1, 143 StPO - grundsätzlich für das gesamte Verfahren bis zur Rechtskraft.
2. Eine Aufhebung der Beiordnung kommt nicht schon dann in Betracht, wenn das Gericht lediglich seine rechtliche Auffassung über das Vorliegen der Voraussetzungen einer Pflichtverteidigerbestellung ändert oder ein während des Verfahrens neu zuständig werdendes Gericht die Auffassung des Vorderrichters nicht zu teilen vermag.
3. Nicht schutzwürdig ist das Vertrauen des Angeklagten auf die einmal getroffene positive Entscheidung des Gerichts, wenn sich die für die Anordnung der Pflichtverteidigung maßgeblichen Umstände wesentlich geändert haben oder das Gericht von objektiv falschen Voraussetzungen ausgegangen ist.
4. Für die Schwere der Tat stellt die Rechtsfolgenerwartung von einem Jahr Freiheitsstrafe keine starre Grenze dar.
Verfahrensgang
LG Berlin (Entscheidung vom 18.01.2017; Aktenzeichen (560) 273 Js 751/15 Ns (1/17)) |
Tenor
Auf die Beschwerde des Angeklagten wird der Beschluss des Vorsitzenden der Strafkammer 60 des Landgerichts Berlin vom 18. Januar 2017 aufgehoben.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die dem Beschwerdeführer insoweit entstandenen notwendigen Auslagen trägt die Landeskasse Berlin.
Gründe
Die Staatsanwaltschaft Berlin hat dem Angeklagten mit ihrer beim Amtsgericht Tiergarten - Strafrichter - erhobenen Anklage vom 28. Mai 2015 - 273 Js 751/15 - drei Fälle des (gewerbsmäßig begangenen) unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in der Zeit vom 24. bis 28. Januar 2015 zur Last gelegt und beantragt, ihm gemäß § 140 Abs. 2 StPO einen Pflichtverteidiger beizuordnen. Die Tatvorwürfe bezogen sich auf zehn Szenetütchen mit insgesamt 32,702 Gramm (netto) sowie fünf Szenetütchen mit insgesamt 17,48 Gramm (netto) Blütenständen von Cannabis (Marihuana) in den Fällen 1 und 2 sowie ein Szenetütchen mit 4,40 Gramm (brutto) Marihuana in Fall 3. Das Amtsgericht Tiergarten hat am 21. September 2015 das Verfahren (267 Ds) 273 Js 3951/15 (153/15), in dem dem Angeklagten mit Anklageschrift vom 9. Juli 2015 unerlaubter Besitz von Betäubungsmitteln - bezogen auf zwei Szenetütchen mit insgesamt 8,254 Gramm (netto) Blütenständen von Cannabis (Marihuana) - vorgeworfen wurde, übernommen und zu dem führenden Verfahren hinzuverbunden sowie dem (seinerzeit) Angeschuldigten gemäß § 140 Abs. 2 StPO "im Hinblick auf die mögliche Gesamtstraferwartung" Rechtsanwalt Z. zum Pflichtverteidiger bestellt. Mit Beschluss vom 14. Juli 2016 hat das Amtsgericht die Anklagen unter Eröffnung des Hauptverfahrens vor dem Amtsgericht Tiergarten - Strafrichter - zur Hauptverhandlung zugelassen.
Nach Teileinstellung des Verfahrens bezüglich des Tatvorwurfs aus der Anklage vom 9. Juli 2015 gemäß § 154 Abs. 2 StPO im Hinblick auf die wegen der weiteren Tatvorwürfe zu erwartende Strafe verurteilte das Amtsgericht den Angeklagten am 18. November 2016 auf der Grundlage einer Verständigung wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in drei Fällen - jeweils in Anwendung des sich aus § 29 Abs. 1 BtMG ergebenden Strafrahmens - zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von elf Monaten mit Strafaussetzung zur Bewährung. Gegen dieses Urteil hat nur der Angeklagte, der eine mildere Bestrafung erstrebt, Berufung eingelegt. Mit dem angefochtenen Beschluss hat der Vorsitzende der Berufungskammer nach Anhörung von Rechtsanwalt Z. dessen Bestellung zum Pflichtverteidiger aufgehoben.
1. Die hiergegen erhobene Beschwerde des Angeklagten ist nach § 304 Abs. 1 StPO zulässig. Sie ist insbesondere nicht durch die Vorschrift des § 305 Satz 1 StPO ausgeschlossen, die auch für Entscheidungen des Vorsitzenden des erkennenden Gerichts gilt (vgl. KG, Beschlüsse vom 10. Mai 2012 - 2 Ws 194-195/12 - und 20. Oktober 2008 - 2 Ws 522/08 -; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 59. Aufl., § 305 Rdn. 3). Denn der angegriffene Beschluss steht in keinem inneren Zusammenhang mit der Urteilsfällung, sondern dient unabhängig davon der Sicherung des justizförmigen Verfahrens und hat daher eigenständige verfahrensrechtliche Bedeutung (vgl. KG StV 2010, 63; Senat, Beschluss vom 12. Januar 2015 - 5 Ws 75/14 -; Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 305 Rdn. 5).
2. Das Rechtsmittel hat auch in der Sache Erfolg.
a) Die angefochtene Entscheidung widerspricht den in der Rechtsprechung entwickelten Rechtsgrundsätzen zur Rücknahme einer Pflichtverteidigerbestellung in Fallgestaltungen der vorliegenden Art.
aa) Die Bestellung eines Pflichtverteidigers im Rahmen des § 140 Abs. 2 StPO gilt grundsätzlich für das gesamte Verfahren bis zur Rechtskraft. Ist die Frage der Notwendigkeit der Verteidigung in irgendeinem Verfahrensstadium positiv beantwortet worden, muss es - abgesehen von den gesetzlich geregelten Ausnahmen nach den §§ 140 Abs. 3 Satz 1, 143 StPO - insbesondere dann bei der Bestellung bleiben, wenn das Gericht lediglich seine rechtliche Auffassung ...