Leitsatz (amtlich)
1.
Der Grundgedanke des § 116 Abs. 4 StPO ist auch im Beschwerdeverfahren bei der rückwirkenden Überprüfung einer alten Haftentscheidung zu beachten.
2.
Auch wenn nach der seit dem 1. Oktober 2009 geltenden Fassung des § 112a StPO bei der Beurteilung des dringenden Tatverdachts auch Taten einzubeziehen sind, die Gegenstand anderer rechtskräftig abgeschlossener Verfahren waren, ist diese Beurteilung im einzelnen an dem Schweregrad dieser früheren Taten und den entsprechenden Tatzeiten auszurichten.
Verfahrensgang
LG Berlin (Entscheidung vom 08.03.2010; Aktenzeichen Qs 29/10 (282) 81 Js 4204/09 (2/10)) |
Tenor
Die weitere Beschwerde der Staatsanwaltschaft bei dem Landgericht Berlin gegen den Beschluss des Landgerichts Berlin vom 8. März 2010 wird verworfen.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens werden der Landeskasse Berlin auferlegt, die auch die dem Angeschuldigten insoweit entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen hat.
Gründe
Die Staatsanwaltschaft Berlin legt dem Angeschuldigten zur Last, sich der gefährlichen Körperverletzung, der Beleidigung, Bedrohung und der Sachbeschädigung schuldig gemacht zu haben. Wegen der Einzelheiten wird auf den Inhalt der Anklageschrift vom 4. Februar 2010 verwiesen. Der Angeschuldigte befand sich wegen Fluchtgefahr aufgrund des Haftbefehls des Amtsgerichts Tiergarten vom 23. Dezember 2009 - 351 Gs 4417/09 - in der Zeit vom 21. Januar 2010 bis zum 16. Februar 2010 in Untersuchungshaft. Das Amtsgericht hat den damaligen Beschuldigten und jetzigen Angeschuldigten nach der Haftprüfung durch Beschluss vom 16. Februar 2010 von dem weiteren Vollzug der Untersuchungshaft verschont und ihm die Auflage erteilt, sich zweimal wöchentlich bei dem für seinen Wohnsitz zuständigen Polizeiabschnitt zu melden und binnen drei Tagen seinen Reisepass zu den Akten zu reichen. Die hiergegen gerichtete zulässige Beschwerde der Staatsanwaltschaft hat das Landgericht durch den angefochtenen Beschluss als unbegründet verworfen.
Auch die zulässige weitere Beschwerde der Staatsanwaltschaft hat keinen Erfolg.
1.
Der Angeschuldigte ist der Taten, die Gegenstand der Anklage sind, dringend verdächtig (§ 112 Abs. 1 Satz 1 StPO). Dies folgt aus den in der Anklageschrift genannten Beweismitteln.
2.
Das Landgericht hat zutreffend angenommen, dass Fluchtgefahr besteht, der jedoch durch mildere Maßnahmen ausreichend begegnet werden kann. Der Angeschuldigte ist zwar mehrfach vorbestraft worden. Im Falle seiner Verurteilung muss er mit einer nicht unerheblichen Haftstrafe rechnen, die wegen seiner Vorstrafen mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht zur Bewährung ausgesetzt werden wird. Darüber hinaus ist er - noch nicht rechtskräftig - in einem weiteren Verfahren vom Amtsgericht Tiergarten am 5. November 2009 - 271 14/09 - wegen räuberischen Diebstahls zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr verurteilt worden und gegen ihn ist eine weitere Anklage wegen zweimaligen Hausfriedensbruchs, Beleidigung, versuchter Körperverletzung und Bedrohung bei dem Amtsgericht Tiergarten - 271 Ds 210/09 - anhängig. Insgesamt muss der Angeschuldigte mit einer Freiheitsstrafe von weit über zwei Jahren rechnen. Eine derartige Straferwartung ist in hohem Maße geeignet, die Gefahr zu begründen, dass sich der Angeklagte dem weiteren Verfahren oder der Strafvollstreckung durch Flucht entziehen wird. Bei Straferwartungen in derartiger Höhe ist nach ständiger Rechtsprechung des Kammergerichts grundsätzlich - so auch hier - Fluchtgefahr gegeben und nur noch zu prüfen, ob der bestehenden Fluchtgefahr im Einzelfall durch mildere Maßnahmen als dem Vollzug der Untersuchungshaft begegnet werden kann (ständige Rechtsprechung des Kammergerichts, u.a. Beschluss vom 2. März 2006 - 5 Ws 68/06 - [bei [...]]). So liegt es hier. Zu Recht hat das Landgericht ausgeführt, dass der Angeschuldigte einen festen Wohnsitz hat, dort auch im Januar festgenommen worden und familiär eingebunden ist. Er verfügt nach entsprechender Abgabe nicht mehr über einen gültigen Reisepass. Hinzu kommt, dass sich der Angeschuldigte um eine Langzeittherapie bei der Caritas bemüht hat, was jedenfalls als Indiz gegen ein Abtauchen gewertet werden muss. Dafür, dass er sich dem Verfahren mit Hilfe der Auflagen stellen wird, spricht auch, dass nach Auskunft des Amtsgerichts der Verteidiger eine weitgehend geständige Einlassung angekündigt hat. Zudem ist vorliegend auch der Grundgedanke des § 116 Abs. 4 StPO zu beachten. Zwar richtet sich diese Vorschrift nach ihrem Wortlaut in erster Linie an den nach § 126 StPO originär zuständigen Haftrichter und betrifft Fälle, in denen dieser entweder auf Antrag oder von Amts wegen darüber zu befinden hat, ob aufgrund neuer Umstände ein einmal unangefochtener außer Vollzug gesetzter Haftbefehl wieder zu vollziehen ist. Anders als im Beschwerdeverfahren geht es dann nicht um eine rückwirkende Überprüfung einer alten, sondern um die Frage, ob eine neue Haftentscheidung zu treffen ist. Gleichwohl kommt der eng auszulegenden Ausnahmeregelung des § 116 ...