Verfahrensgang
LG Berlin (Entscheidung vom 01.07.2021; Aktenzeichen (525) 254 Js 592/20 KLs (10/21)) |
Tenor
1. Auf die sofortige Beschwerde und die Beschwerde der Staatsanwaltschaft Berlin wird der Beschluss des Landgerichts Berlin - 25. große Strafkammer - vom 1. Juli 2021 aufgehoben.
2. Die Anklage der Staatsanwaltschaft Berlin vom 29. April 2021 wird unter Eröffnung des Hauptverfahrens zur Hauptverhandlung vor einer anderen Strafkammer des Landgerichts Berlin zugelassen.
3. Der Haftbefehl des Amtsgerichts Tiergarten in Berlin vom 17. Januar 2021 - 380 Gs 16/21 - tritt mit der Maßgabe wieder in Kraft, dass mit Ausnahme des Falles 1 des Haftbefehls dringender Tatverdacht besteht (§ 112 Abs. 1 StPO).
4. Die Landeskasse Berlin hat die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu tragen.
Gründe
I.
Die Staatsanwaltschaft Berlin legt dem Angeklagten mit ihrer am 6. Mai 2021 zum Landgericht Berlin erhobenen Anklage vom 29. April 2021 zur Last, in Berlin und andernorts ab einem nicht mehr genau feststellbaren Zeitpunkt - in nicht rechtsverjährter Zeit, vor dem 26. März 2020 - bis zum 11. Juni 2020, teils gemeinschaftlich, teils allein, durch 16 selbständige Handlungen mit Betäubungsmitteln (vor allem Cannabisprodukte, MDMA-Tabletten und Amfetamin) in nicht geringer Menge (d.h. im Kilogrammbereich) unerlaubt Handel getrieben zu haben.
Für die Absprachen mit seinen Lieferanten und Abnehmern sowie mehreren mutmaßlichen Mittätern soll er sich des als besonders abhörsicher beworbenen niederländischen Kommunikationsdienstes "EncroChat" bedient haben. Dieser bot Endgeräte (sogenannte Krypto-Handys) mit modifizierter Hardware und spezieller Software nebst Nutzungslizenzen an und ermöglichte damit über einen in Roubaix (Frankreich) stationierten Server eine Ende-zu-Ende verschlüsselte Kommunikation.
Die Anklagevorwürfe beruhen im Wesentlichen auf mutmaßlich von dem Angeklagten verfassten oder an ihn gerichteten Chat-Nachrichten, die mit hoher Wahrscheinlichkeit die in der Anklage beschriebenen Handelsgeschäfte zum Gegenstand hatten und im Falle ihrer Verwertbarkeit mit ebensolcher Wahrscheinlichkeit seine Überführung in der Hauptverhandlung ermöglichen werden.
Die Auswertung der durch die französischen Ermittlungsbehörden zur Verfügung gestellten Daten führte u.a. deshalb am 29. Juli 2020 zur Identifizierung des Angeklagten als mutmaßlichen Nutzer der Kennung "...@encrochat.com", weil er in einem Chat mit dem Nutzer "..." vom 26. März 2020 seine genaue Wohnanschrift "..." angegeben und dies mit dem Hinweis darauf verbundenen haben soll, dass die Wohnung im Erdgeschoss liege und sich sein Nachname am Klingelschild befinde.
Bereits am 17. Januar 2021 hatte das Amtsgericht Tiergarten in Berlin in derselben Sache einen auf den Haftgrund der Fluchtgefahr gestützten Haftbefehl (380 Gs 16/21) gegen den Angeklagten wegen des dringenden Tatverdachts des unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in 14 Fällen erlassen, die im Kern - mit Ausnahme des dortigen Falles 1. - jeweils mit den entsprechenden Fällen der Anklage übereinstimmen.
Mit Beschluss vom 1. Juli 2021 lehnte das Landgericht Berlin - 25. große Strafkammer - die Eröffnung des Hauptverfahrens ab und hob den Haftbefehl des Amtsgerichts Tiergarten auf.
Wegen der weiteren Einzelheiten der vorgeworfenen Taten nimmt der Senat auf die Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Berlin vom 29. April 2021 Bezug.
II.
Die Strafkammer meint, die Chat-Kommunikation des Angeklagten, auf die die Anklage sich als maßgebliches Beweismittel stützt, sei aus Rechtsgründen nicht geeignet, die Schuld des Angeklagten zu belegen; sie sei im deutschen Strafverfahren nicht verwertbar.
1. Die Chat-Nachrichten stammten aus der heimlichen technischen Infiltration des Mobiltelefons des Angeklagten mit dem Ziel, längerfristig Zugriff auf darauf gespeicherte Daten zu erlangen (Online-Durchsuchung) und die laufende Kommunikation zu überwachen (Quellen-Telekommunikationsüberwachung). Dabei handele es sich um einen besonders schwerwiegenden Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht in seiner Ausprägung als Schutz der Vertraulichkeit und Integrität von informationstechnischen Systemen (sogenanntes IT-Grundrecht) bzw. in das Telekommunikationsgeheimnis (Art. 10 GG).
2. Die Erhebung dieser Daten - durch die französischen Ermittlungsbehörden - sei (bezogen auf den Angeklagten) rechtswidrig gewesen und der darin liegende Grundrechtseingriff somit nicht gerechtfertigt. Die Rechtswidrigkeit ergebe sich bereits daraus, dass die Daten unter Verstoß gegen die Richtlinie 2014/41/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 3. April 2014 über die Europäische Ermittlungsanordnung in Strafsachen (im Folgenden: RL-EEA) und gegen die zu ihrer Umsetzung erlassenen Regelungen im Gesetz über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen (IRG) erlangt worden seien. Die Maßnahme sei zudem auch deshalb rechtswidrig, weil bei ihrer Anordnung und Durchführung der nach §§ 100a, 100b StPO erforderliche qualifizierte Tatver...