Leitsatz (amtlich)
Einem Zeugen steht ein umfassendes Auskunftsverweigerungsrecht nach § 55 StPO zu, wenn er während eines einheitlichen Gesamtgeschehens sowohl Opfer von Straftaten war (hier sexueller Missbrauch von Kindern oder Jugendlichen) als auch sich während und nach diesem Zeitraum an entsprechenden Straftaten des Haupttäters beteiligt hat; denn es besteht die konkrete Gefahr, dass ihn seine Angaben - als Opfer - durch denselben Haupttäter und die gleichen Tatumstände zumindest mittelbar belasten können.
Verfahrensgang
LG Berlin (Entscheidung vom 30.09.2008; Aktenzeichen (530) 21 Ju Js 2134/04 Kls (25/08)) |
Tenor
Auf die Beschwerde des Zeugen , wohnhaft in B Straße , wird der Beschluss des Landgerichts Berlin vom 30. September 2008 aufgehoben.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die insoweit entstandenen notwendigen Auslagen des Zeugen fallen der Landeskasse Berlin zur Last.
Gründe
Bei dem Landgericht Berlin ist zurzeit das Hauptverfahren gegen den Angeklagten anhängig. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm mit der Anklageschrift vom 18. Juni 2008 u.a. vor, sich in Berlin zum Nachteil des Zeugen in der Zeit vom 15. August 2002 bis zum 14. August 2005 in 600 Fällen wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern sowie in der Zeit vom 15. August 2005 bis März 2007 in 10 Fällen wegen sexuellen Missbrauchs von Jugendlichen, davon in sieben Fällen in Tateinheit mit Verbreitung pornographischer Schriften strafbar gemacht zu haben, §§ 176, 176 a Abs. 2 Nr. 1, 182 Abs. 1 Nr. 1, 184 Abs. 1 Nr. 1 StGB. Hinsichtlich der Einzelheiten wird auf den Inhalt der Anklageschrift verwiesen. Das Landgericht hat in der seit dem 17. Juli 2008 laufenden Hauptverhandlung am 8. August 2008 mit der Vernehmung des Zeugen begonnen. Nachdem sich der Zeuge zu Beginn seiner am 30. September 2008 fortgesetzten Vernehmung auf ein ihm zustehendes umfassendes Auskunftsverweigerungsrecht nach § 55 StPO berufen und weitere Angaben verweigert hatte, hat das Landgericht durch den angefochtenen Beschluss gegen den Zeugen Beugehaft bis zur Dauer von sechs Monaten, längstens bis zur Beendigung des landgerichtlichen Verfahrens, angeordnet und ihm die durch die Zeugnisverweigerung verursachten Kosten auferlegt. Die nach § 304 Abs. 2 StPO zulässige Beschwerde des Zeugen hat im Einvernehmen mit der Generalstaatsanwaltschaft Erfolg.
Die Strafkammer hat die Beugehaft gegen den Beschwerdeführer nach § 70 Abs. 1 und 2 StPO zu Unrecht angeordnet, denn er hat seine (weitere) Aussage aufgrund des ihm zustehenden umfassenden Auskunftsverweigerungsrechts nach § 55 StPO berechtigt verweigert.
Nach § 55 StPO kann jeder Zeuge als Ausdruck der durch das Grundgesetz garantierten Menschenwürde und Selbstbelastungsfreiheit (vgl. BVerfG StV 1999, 71 f) die Auskunft auf Fragen verweigern, bei deren wahrheitsgemäßer Beantwortung er bestimmte Tatsachen angeben müsste, die unmittelbar oder mittelbar einen Anfangsverdacht für das Vorliegen einer Straftat oder Ordnungswidrigkeit und damit die Aufnahme von Ermittlungen gegen ihn oder einen Angehörigen nach § 52 Abs. 1 StPO begründen würden. Da die Schwelle des Anfangsverdachts im Sinne des § 152 Abs. 2 StPO niedrig liegt, ist auch das Bestehen einer entsprechenden konkreten Gefahr bereits weit im Vorfeld einer direkten Belastung zu bejahen (vgl. BVerfG NJW 2003, 3045, 3046; BVerfG NStZ 2002, 378, 379; BGH NJW 1999, 1413; OLG Düsseldorf VRS 111, 45 ff; LR-Dahs, StPO 25. Aufl., § 55 Rdn. 10). Zu einem Recht der Verweigerung des Zeugnisses in vollem Umfang, auf das sich der Beschwerdeführer beruft, wird das Auskunftsverweigerungsrecht nur ausnahmsweise, und zwar dann, wenn die gesamte Aussage des Zeugen mit seinem vielleicht strafbaren Verhalten in so engem Zusammenhang steht, dass nichts mehr übrig bleibt, was er ohne die Gefahr eigener Strafverfolgung bezeugen könnte, eine Trennung mithin nicht möglich ist (vgl. BGH NJW-Spezial 2008, 568, 569; BGH StV 2002, 604; BGH StV 1987, 328; BGH NStZ 1986, 181; Senat, Beschlüsse vom 19. Juli 2001 - 4 Ws 109/01 - und 22. März 1999 - 4 Ws 73/99 - ; KG, Beschluss vom 5. März 2004 - 5 Ws 58/03 - ).
Das Landgericht ging vor dem Hintergrund, das der Zeuge seiner polizeilichen Aussage vom 4. Januar 2008 zufolge im Alter von 14 bzw. 15 Jahren dem Angeklagten mindestens fünf Jungen im Alter von ungefähr 11 Jahren - und darüber hinaus auch anderen Männern weitere Jungen - gegen ein Entgelt zugeführt hat und gegen ihn deshalb seit der Vernehmung ein Ermittlungsverfahren anhängig ist, von einem Auskunftsverweigerungsrecht dieses Zeugen ab seinem 14. Lebensjahr aus. Für den vorherigen Zeitraum lehnt das Landgericht hingegen ein solches Recht ab, da dem Zeugen mangels Strafmündigkeit für diesen Zeitraum keine Strafverfolgung drohen würde und ein Schluss von etwaigen Missbrauchshandlungen des Angeklagten gegen den Zeugen auf ein mögliches späteres strafbares Verhalten des Zeugen durch seine Vermittlungstätigkeit nicht möglich sei.
Damit hat das Gericht, dem hinsichtlich des Bestehens eines Auskunftsver...