Leitsatz (amtlich)
Im Regelfall ist von einer Reaktionszeit (einschließlich Bremsansprechzeit) von 1,0 Sekunden auszugehen. Eine zusätzliche Blickzuwendungszeit ist nicht in Ansatz zu bringen.
Verfahrensgang
LG Berlin (Urteil vom 04.06.2007; Aktenzeichen 24 O 721/04) |
Tenor
Die Berufung der Beklagten gegen das am 4.6.2007 verkündete Urteil der Zivilkammer 24 des LG Berlin - 24 O 721/04 - wird auf ihre Kosten zurückgewiesen.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrages zzgl. 10 % abwenden, wenn nicht die Beklagten vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leisten.
Gründe
A. Die Klägerin macht als Kranken- und Pflegeversicherung des ...gem. § 116 SGB X auf sie übergegangene Schadensersatzansprüche aus einem Verkehrsunfall geltend, der sich am 16.12.1997 gegen 12:15 Uhr in der Ritterstraße in Berlin ereignete.
Die Zeugin ...stand im Bereich einer ca. 12 m breiten Tiefgarageneinfahrt auf dem Gehweg der Ritterstraße vor dem Haus mit der Hausnummer ... Mit ihrer linken Hand hielt sie die rechte Hand ihres seinerzeit 2 Jahre und 8 Monate alten Sohnes ... Als der Ehemann und Vater mit seinem Fahrzeug aus östlicher Richtung kommend gegenüber der Garageneinfahrt hielt, riss sich ...von der Hand der Mutter los und bewegte sich in Richtung seines Vaters. Zur selben Zeit befuhr die Beklagte zu 2) mit ihrem bei der Beklagten zu 1) versicherten Fahrzeug aus westlicher Richtung kommend die Ritterstraße, auf der die zulässige Höchstgeschwindigkeit 30 km/h betrug. Das Fahrzeug erfasste ..., welcher seit dem Unfall vom Hals abwärts gelähmt ist.
Die Beklagte zu 1) hat die Direktansprüche des geschädigten Kindes gem. § 7 Abs. 1 StVG a.F. anerkannt und diesen aufgrund des Befriedigungsvorrechts im Rahmen der Haftungshöchstgrenze nach § 12 StVG abgefunden.
Das LG hat Beweis erhoben durch Vernehmung der Zeugen ..., ..., ...und ...sowie durch Einholung eines Gutachtens des Sachverständigen Dip.-Ing. ... Die Beklage zu 2) hat das LG als Partei persönlich gehört.
Mit seinem am 4.6.2007 verkündete Urteil, auf dessen Tatbestand und Entscheidungsgründe Bezug genommen wird, hat das LG die Beklagten antragsgemäß verurteilt, da zur Überzeugung des Gerichtes feststehe, dass die Beklagte zu 2) den Unfall schuldhaft verursacht habe.
Hiergegen richtet sich die Berufung der Beklagten, die zur Begründung ihrer Berufung u.a. vortragen, es handele sich bei dem angefochtenen Urteil um eine Überraschungsentscheidung, die auf der Verletzung rechtlichen Gehörs beruhe. Auch inhaltlich habe das Gericht den Vortrag der Beklagten völlig verkannt.
Das LG sehe es zu Unrecht als erwiesen an, dass das Kind ...mit einer maximalen Laufgeschwindigkeit von 1,9 m/s auf die Straße gelaufen sei. Der vom LG bestellte Sachverständige ...habe eine höhere Geschwindigkeit aber nicht ausschließen können. Sie, die Beklagten, hätten sich für ihre Behauptung, ...sei in der Lage gewesen, 2,25 m/s schnell zu laufen, ausdrücklich auf die Einholung eines weiteren Gutachtens bezogen.
Das LG habe die von den Polizeibeamten protokollierte Endlage des Kindes als richtig unterstellt, obwohl hierzu keine gesicherten Informationen vorlägen. Auch der Überquerungsbereich sowie der vom LG angenommenen Seitenabstand von 3,30 m des Fahrzeugs der Beklagten zu 2) zum Fahrbahnrand seien nicht gesichert.
Zu Gunsten der Beklagten sei neben der Reaktionszeit auch eine zusätzliche Blickzuwendungsdauer zu berücksichtigen, insgesamt sei von einem Wert von 1,47 Sekunden auszugehen. Das LG habe die Parteien zu keiner Zeit darauf hingewiesen, dass es entgegen der Berechnungen des Sachverständigen ...in seinem Gutachten von einer maximalen Reaktionszeit von 1 Sekunde ausgehen werde. Das LG habe hierzu eine Sachkunde für sich in Anspruch genommen, die es nicht ausgewiesen habe und für die es keine Anhaltspunkte gäbe.
Insgesamt seien die Feststellungen des Sachverständigen ...auf Mutmaßungen gegründet und nicht auf konkrete Tatsachen. Der insoweit darlegungs- und beweisbelastete Klägerin sei deshalb der Beweis eines Verschuldens nicht gelungen.
Die Beklagten beantragt, die Klage unter Abänderung des angefochtenen Urteils abzuweisen, hilfsweise das Verfahren unter Aufhebung des Urteils an das LG zurückzuverweisen sowie den Beklagten zu gestatten, Sicherheitsleistung durch Stellung einer Bankbürgschaft eines im Inland zum Geschäftsbetrieb befugten Kreditinstitutes zu bewirken.
Die Klägerin beantragt, die Berufung zurückzuweisen.
Die Klägerin verteidigt die angefochtene Entscheidung, die sie für zutreffend erachtet.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Parteivorbringens in beiden Rechtszügen wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen sowie die Protokolle der mündlichen Verhandlungen verwiesen.
Das Berufungsgericht hat Beweis erhoben gemäß den Beweisbeschlüssen vom 26.6.2008 (Bd. 2 Bl. 143 d.A.) und 14.12.2009 (Bd. 3 Bl. 45 d.A.). Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf die gutachterlichen...