Leitsatz (amtlich)
Das Berufungsgericht ist nach § 398 ZPO nicht gehindert, den vom Erstgericht nach Zeugenvernehmung festgestellten Sachverhalt rechtlich anders zu werten, ohne die Zeugen erneut vernommen zu haben.
Kommt es in einem unmittelbaren örtlichen und zeitlichen Zusammenhang mit dem Linksabbiegen zu einer Kollision mit einem links überholenden Fahrzeug, spricht der Beweis des ersten Anscheins für eine Sorgfaltspflichtverletzung des Linksabbiegers.
Eine "unklare Verkehrslage", die nach § 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO das Überholen verbietet, liegt vor, wenn an einem vorausfahrenden oder stehenden Fahrzeug der linke Fahrtrichtungsanzeiger betätigt wird, dies der nachfolgende Verkehr erkennen konnte und dem nachfolgenden überholenden Fahrzeugführer noch ein angemessenes Reagieren - ohne Gefahrenbremsung - möglich war. Dagegen liegt eine unklare Verkehrslage nicht schon dann vor, wenn das vorausfahrende Fahrzeug verlangsamt, selbst wenn es sich bereits etwas zur Fahrbahnmitte eingeordnet haben sollte.
Wegen der besonderen Sorgfaltspflichten des Linksabbiegers haftet dieser im Falle der Kollision mit einem ordnungsgemäß überholenden Kfz grundsätzlich allein, wobei die Betriebsgefahr des Kfz des Überholers zurücktritt.
Verfahrensgang
AG Berlin-Mitte (Urteil vom 10.02.2005; Aktenzeichen 105 C 3271/01) |
Tenor
Auf die Berufung der Beklagten wird das am 10.2.2005 verkündete Urteil des AG Mitte - 105 C 3271/01 - abgeändert und wie folgt neu gefasst:
Die Klage wird abgewiesen.
Die Klägerin hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Gründe
Die zulässige Berufung hat in der Sache Erfolg.
1. Schadensersatzansprüche aus §§ 7, 17, 18 StVG, § 3 Nr. 1 und 2 Pflichtversicherungs-gesetz, § 823 BGB stehen der Klägerin gegen den Beklagten aus dem Verkehrsunfall, der sich am 7.10.2000 gegen 15.00 Uhr auf der in Berlin gelegenen Kreuzung T.-Park/B.-straße ereignet hat, nicht zu.
a) Zutreffend ist das AG in dem angefochtenen Urteil davon ausgegangen, dass gegen die Fahrerin des klägerischen Fahrzeugs, die Zeugin v.B., der Beweis des ersten Anscheins dafür spricht, die beim Linksabbiegen nach § 9 Abs. 1 StVO zu beachtenden Sorgfaltspflichten verletzt zu haben, da sich der Unfall unstreitig im unmittelbaren örtlichen und zeitlichen Zusammenhang mit dem Linksabbiegevorgang der Fahrerin des klägerischen Fahrzeugs ereignet hat (KG DAR 2002, 557; Urt. v. 6.12.2004 - 12 U 21/04, MDR 2005, 806 = KGReport Berlin 2005, 665, st. Rspr.). Dem AG ist auch darin zu folgen, dass die Klägerin nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme nicht bewiesen hat, dass sich die Fahrerin des klägerischen Fahrzeugs, wie dies in § 9 Abs. 1 StVO vorgeschrieben ist, äußerst links eingeordnet hat (Urteil S. 4). Das Berufungsgericht folgt dem AG auch darin, dass hinsichtlich der Frage, ob Frau v.B. als Fahrerin des klägerischen Fahrzeugs vor dem Einbiegen den linken Blinker gesetzt hat, keine Veranlassung besteht, den klägerischen Zeugen T., Gräfin v.B. und B. mehr Glauben zu schenken als den von den Beklagten benannten Zeugen S. und K., die übereinstimmend bekundet haben, die Zeugin v.B. habe das klägerische Fahrzeug plötzlich nach links gelenkt, ohne vorher den Blinker gesetzt zu haben.
b) Nicht gefolgt werden kann dem AG jedoch, wenn es bei diesem Ergebnis der Beweisaufnahme zu einer Haftungsverteilung von 2/3 zu 1/3 zu Lasten der Klägerin gelangt. Die rechtlichen Ausführungen des AG auf S. 5 des angefochtenen Urteils sind mehrdeutig. Einerseits führt das AG aus, die Klägerin habe bewiesen, dass der Beklagte zu 2) unter Verstoß gegen § 5 StVO in einer für ihn unklaren Verkehrslage überholt habe. Andererseits meint das AG im selben Satz, dies (der Verstoß gegen § 5 StVO) könne nicht als feststehend angesehen werden, was nahe legt, dass das AG von einem ungeklärten Unfallhergang ausgegangen ist.
c) Das Berufungsgericht kann in der Sache abschließend entscheiden, ohne die Zeugen gem. § 398 ZPO erneut vernommen zu haben. Zwar darf das Berufungsgericht die Frage der Glaubwürdigkeit der vernommenen Zeugen nicht abweichend von der ersten Instanz beurteilen, ohne die Zeugen erneut vernommen zu haben (BGH v. 13.5.1986 - VI ZR 142/85, MDR 1986, 1015 = NJW 1986, 2885). Auch ist eine erneute Vernehmung dann erforderlich, wenn die erste Instanz von der Würdigung der Aussagen von ihr vernommener Zeugen und der Erörterung der Glaubwürdigkeit der Zeugen ganz abgesehen hat oder die Beweiswürdigung des erstinstanzlichen Urteils völlig ungenügend ist (BGH NZM 2000, 143 [144]). So liegt der Fall hier indessen nicht. Das AG hat rechtsfehlerfrei begründet, dass die Fahrerin des klägerischen Fahrzeugs sich vor dem beabsichtigten Abbiegevorgang nicht möglichst weit links eingeordnet hat. Hinsichtlich der Frage, ob die Fahrerin des klägerischen Fahrzeugs vor dem Abbiegevorgang den Fahrtrichtungsanzeiger betätigt hat, hat das AG ebenso zutreffend ausgeführt, es bestünde keine Veranlassung, "einer Aussage mehr Gewicht beizumessen als der anderen". Es hat also die Auss...