Entscheidungsstichwort (Thema)
Erschleichen eines Aufenthaltstitels durch "Scheinvaterschaft"
Leitsatz (amtlich)
1. Ist die notarielle Beurkundung der Vaterschaftsanerkennung durch einen Mann, der tatsächlich nicht der leibliche Vater ist, durchgeführt worden, so steht der Umstand, dass mit der Anerkennung der Vaterschaft die Absicht verfolgt wurde, einen Aufenthaltstitel zu erschleichen, deren Rechtswirksamkeit nicht entgegen. Die rechtswirksam durch Anerkennung erworbene Vaterschaft ist eine rechtlich vollwertige Vaterschaft, die sich umfassend auf die gesamte deutsche Rechtsordnung erstreckt.
2. Ob in einer bestimmten Kommunikationssituation neben einer ausdrücklichen auch eine konkludente Erklärung abgegeben worden ist und welchen Inhalt diese hat, bestimmt sich nach dem objektiven Empfängerhorizont, der unter Berücksichtigung der Gesamtumstände und der Verkehrsanschauung festzulegen ist; spielt ein Umstand in einer bestimmten Kommunikationssituation für den Erklärungsempfänger keine Rolle, so spricht dies dagegen, dass er konkludent miterklärt worden ist.
Normenkette
AufenthG § 95 Abs. 2 Nr. 2; StAG § 4 Abs. 3 S. 1; StGB §§ 169, 271
Verfahrensgang
LG Berlin (Entscheidung vom 20.10.2022; Aktenzeichen (577) 255 Js 53/20 Ns (58/21)) |
Tenor
Die Revision der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landgerichts Berlin vom 20. Oktober 2022 wird auf Kosten der Landeskasse Berlin, die auch die notwendigen Auslagen der Angeklagten zu tragen hat, verworfen.
Gründe
I.
Das Amtsgericht Tiergarten hat die Angeklagte wegen "Machens unrichtiger Angaben zur Beschaffung eines Aufenthaltstitels" zu einer Geldstrafe verurteilt. Auf die hiergegen gerichtete Berufung der Angeklagten hat das Landgericht diese aus Rechtsgründen freigesprochen.
Nach den Feststellungen des Landgerichts erklärte die Angeklagte am 13. November 2019 gegenüber dem Notarvertreter Rechtsanwalt M, schwanger zu sein. Der ebenfalls anwesende vietnamesische Staatsbürger T gab an, anzuerkennen, der Vater des Kindes zu sein; die Angeklagte stimmte der Vaterschaftsanerkennung zu. Sowohl die Angeklagte als auch T erklärten sodann, die Sorge für das Kind gemeinsam übernehmen zu wollen. T hatte zu diesem Zeitpunkt bereits seit mehr als acht Jahren rechtmäßig seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland. Das Kind der Angeklagten, S, wurde am 21. November 2019 in Berlin geboren und erhielt "gemäß § 4 Abs. 3 Nr. 1 StAG" die deutsche Staatsbürgerschaft. Mit Schreiben vom 10. Dezember 2019 beantragte Rechtsanwalt Tr im Auftrag der Angeklagten bei dem Landesamt für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten, der Angeklagten ab der Geburt des Kindes eine Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG zu erteilen. Zur Begründung dieses Antrags trug er vor, dass die Angeklagte Mutter einer minderjährigen Deutschen und T deren Vater sei. Tatsächlich handelt es sich bei T, wie die Angeklagte wusste, nicht um den biologischen Vater ihrer Tochter. Vielmehr zahlte die Angeklagte dem T 5.000 € für die Anerkennung der Vaterschaft. Die Angeklagte wusste im Zeitpunkt ihrer Erklärungen gegenüber dem Notarvertreter, dass T - anders als sie selbst - nicht beabsichtigte, die elterliche Sorge für ihre Tochter auszuüben. Die Angaben vor dem Notarvertreter machte die Angeklagte jedenfalls auch mit dem Ziel, hierdurch als Mutter der S, für die sie seit deren Geburt die Personensorge ausübt, eine Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG zu erlangen.
II.
Die auf die Sachrüge gestützte Revision der Staatsanwaltschaft hat keinen Erfolg. Der Freispruch der Angeklagten aus Rechtsgründen ist nicht zu beanstanden.
1. Entgegen der Rechtsansicht der Revision hat das Landgericht insbesondere zutreffend bereits den objektiven Tatbestand des § 95 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG verneint.
Nach dieser Vorschrift wird bestraft, wer unrichtige oder unvollständige Angaben macht oder benutzt, um für sich oder einen anderen einen Aufenthaltstitel oder eine Duldung zu beschaffen. Diese tatbestandlichen Voraussetzungen hat die Angeklagte weder durch ihre Erklärungen vor dem Notarvertreter Rechtsanwalt M, noch durch die Angaben in dem Schreiben vom 10. Dezember 2019 verwirklicht.
a) Die Erklärungen der Angeklagten gegenüber dem Notarvertreter erfüllen bereits deshalb nicht den Tatbestand des § 95 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG, weil diese Vorschrift nur Angaben erfasst, die gegenüber der nach § 71 AufenthG zuständigen Behörde in einem verwaltungsrechtlichen Verfahren zur Erlangung eines Aufenthaltstitels oder einer Duldung gemacht werden (vgl. Thüringer Oberlandesgericht, Beschluss vom 8. Juni 2005 - 1 Ss 84/05 -, juris Rn. 18; Bayerisches Oberstes Landesgericht, Beschluss vom 17. Mai 2000 - 4St RR 55/00 -, juris Rn. 11; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 29. April 1992 - 2 Ss 55/92 - 23/92 II -, NStE Nr. 1 zu § 92 AuslG n. F.; Hörich/Bergmann in Huber/Mantel, AufenthG 3. Aufl., § 95 Rn. 240; Fahlbusch in Hofmann, Ausländerrecht 2. Aufl., § 95 AufenthG Rn. 222; Stephan in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht 14. Aufl., § 95...