Leitsatz (amtlich)
1. Ereignet sich ein Unfall im unmittelbaren zeitlichen und räumlichen Zusammenhang mit einem Abbiegevorgang, streitet der Beweis des ersten Anscheins für das alleinige Verschulden des Wartepflichtigen.
2. Ein wartepflichtiger Kraftfahrer muss damit rechnen, dass bevorrechtigte Fahrzeuge die zulässige Höchstgeschwindigkeit auch deutlich überschreiten.
3. Der Fahrer des bevorrechtigten Fahrzeugs kann grundsätzlich darauf vertrauen, dass der Wartepflichtige sein Vorfahrtsrecht auf der gesamten Breite der bevorrechtigten Straße beachten wird.
Normenkette
StVG §§ 7, 17; StVO § 8
Verfahrensgang
LG Berlin (Aktenzeichen 24 O 117/01) |
Tenor
Die Berufung der Klägerin gegen das am 25.9.2001 verkündete Urteil des LG Berlin – 24 O 117/01 – wird auf ihre Kosten zurückgewiesen.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
Von der Darstellung des Tatbestandes wird gem. § 543 Abs. 1 ZPO a.F. (vgl. § 26 Nr. 5 EGZPO) abgesehen.
Die Berufung ist zulässig, insb. form- und fristgerecht eingelegt worden. In der Sache hat sie jedoch keinen Erfolg. Der Klägerin steht gegen den in zweiter Instanz nur noch in Anspruch genommenen Beklagten zu 2) als Haftpflichtversicherer des Müllentsorgungsfahrzeuges kein Anspruch auf Ersatz ihres bei dem Verkehrsunfall vom 31.1.2000 erlittenen Schadens gem. § 3 Nr. 1 und 2 PflVG i.V.m. §§ 7, 17 StVG bzw. § 839 BGB, Art. 34 GG jeweils in der zur Unfallzeit geltenden Fassung zu.
Der Beklagte zu 2) haftet für den Unfallschaden weder aufgrund eines Verschuldens des Fahrers des Lkw noch aufgrund der Betriebsgefahr dieses Fahrzeuges, selbst wenn man zugunsten der Klägerin unterstellt, dass der Unfall für den Fahrer des Lkw nicht unabwendbar i.S.v. § 7 Abs. 2 StVG war. Denn die Klägerin, die aus der Betriebsgefahr ihres eigenen Kraftfahrzeuges haftet, hat den Unfall so überwiegend verschuldet, dass demgegenüber eine etwa zu berücksichtigende Betriebsgefahr des Lkw völlig zurücktritt.
Entgegen der von der Klägerin vertretenen Ansicht sind keine ernsthaften Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass der Unfall für sie ein unabwendbares Ereignis gewesen wäre, mit der Folge, dass ihre Haftung entfallen würde (§ 7 Abs. 2 StVG). Dabei kann hier dahinstehen, ob der Lkw, wie die Klägerin behauptet, trotz der am Unfallort vorgeschriebenen Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h mit mindestens 70 km/h gefahren ist und ob er kurz vor dem Zusammenstoß den Fahrstreifen gewechselt hat. Denn dies würde ohne Hinzutreten weiterer Umstände nicht die Annahme begründen, dass auch ein ganz besonders aufmerksamer Fahrer anstelle der Klägerin den Lkw nicht rechtzeitig hätte bemerken und den Unfall nicht hätte abwenden können. Das gilt insb., weil der Lkw auf der bevorrechtigten R.-Straße fuhr und die aus der kreuzenden K.-Allee kommende Klägerin aufgrund des Verkehrszeichens Z 206 wartepflichtig war.
Die danach vorzunehmende Abwägung der von den beiden am Unfall beteiligten Fahrzeugen ausgehenden Betriebsgefahr (§ 17 StVG) führt zu dem Ergebnis, dass die Klägerin allein haftet.
Hier spricht nach ständiger obergerichtlicher Rspr. der Beweis des ersten Anscheins dafür, dass der Unfall auf eine von der Klägerin verschuldete Vorfahrtverletzung zurückzuführen ist (vgl. zu dem gegen den Wartepflichtigen sprechenden Anscheinsbeweis etwa Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 36. Aufl., § 8 StVO Rz. 69 m. zahlreichen w.N.). Die Kollision ereignete sich in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Abbiegemanöver der wartepflichtigen Klägerin aus der K.-Allee in die bevorrechtigte R.-Straße, auf der der Lkw fuhr. Die Klägerin durfte gem. § 8 Abs. 2 S. 2 StVO ihre Fahrt vom Mittelstreifen aus erst fortsetzen, nachdem sie übersehen konnte, dass sie bevorrechtigte Fahrzeuge weder gefährden noch wesentlich behindern würde.
Soweit die Klägerin in der mündlichen Verhandlung geltend gemacht hat, ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen Abbiegevorgang und Unfall bestünde nicht, ist dem nicht zu folgen. Dabei kann dahinstehen, ob die Klägerin, wie der Beklagte zu 2) behauptet, vom Mittelstreifendurchbruch aus unmittelbar in die Seite des vorbeifahrenden Lkw gefahren ist, ob die Klägerin, wie sie ursprünglich vorgetragen hat, zur Zeit der Kollision das Abbiegemanöver bereits „fast beendet” hatte oder ob sie, wie sie im Rahmen der Erörterungen in der mündlichen Verhandlung behauptet hat, zum Zeitpunkt der Kollision unmittelbar im Anschluss an den Abbiegevorgang wenige Meter hinter der Schnittstelle der Fahrbahnen der K.-Allee und der R.-Straße neben dem Mittelstreifen gerade zum Stillstand gekommen war, um das Freiwerden der Zufahrt zu einer dort befindlichen Parklücke abzuwarten, wogegen allerdings der Umstand spricht, dass sich die Anstoßstellen an den Seitenteilen des Lkw befinden. Jedenfalls ereignete sich der Unfall in unmittelbarem räumlichen und zeitlichen Zusammenhang mit dem Abbiegemanöver, das die Klägerin gerade wegen der Parklücke eingeleitet hatte. Dass ein nennenswerter räumlicher oder zeitlicher Abstand zwischen Ab...