Leitsatz (amtlich)
1. Erforderlich, aber auch ausreichend ist, dass sich der Tatrichter bei der Feststellung von Belastungen des Angeklagten durch die lange Verfahrensdauer in den Urteilsgründen mit den Gesichtspunkten ausdrücklich auseinandersetzt, die der Angeklagte in der Hauptverhandlung geltend gemacht hat oder die sich nach den Urteilsgründen aufdrängten.
2. Eine Belastung aufgrund der langen Verfahrensdauer liegt nicht bereits dann vor, wenn einem inhaftierten Angeklagten keine Vollzugslockerungen gewährt wurden, sondern erst dann, wenn die Haftanstalt Vollzugslockerungen gewährt hätte, wenn das weitere Verfahren zu einem früheren Zeitpunkt beendet gewesen wäre.
3. An Umfang und Genauigkeit der Verfahrensrüge ungenügender Kompensation einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung sind hohe Anforderungen zu stellen, da dem Revisionsgericht ein detailliertes und wirklichkeitsgetreues Bild des wirklichen Verfahrensablaufs zu bieten ist. Nur dann ist es in der Lage, allein anhand der Revisionsrechtfertigung zu prüfen, ob eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung vorliegt und welche Folgen diese hat. Die Anforderungen dürfen hiernach zwar nicht überspannt werden, so dass es insbesondere bei einem jahrelang währenden Verfahren nicht erforderlich ist, jeden Ermittlungsschritt anzuführen. Es muss aber ein realistischer Überblick gewährt werden.
4. Der Grundsatz, dass die Anforderungen an die Darstellung des Verfahrensgangs nicht überspannt werden dürfen, gilt nicht nur für die Revisionsbegründungschrift, sondern auch für die Urteilsgründe.
Verfahrensgang
LG Berlin (Entscheidung vom 12.02.2020; Aktenzeichen (566) 283 Js 669/14 Ls Ns (138/14)) |
Tenor
Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Berlin vom 12. Februar 2020 wird mit der Maßgabe verworfen, dass die Einziehungsentscheidung entfällt.
Der Angeklagte trägt die Kosten seines Rechtsmittels.
Gründe
I.
Das Amtsgericht Tiergarten hat den Angeklagten am 19. Juni 2014 wegen Betruges in elf Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und drei Monaten verurteilt.
Gegen dieses Urteil haben der Angeklagte (in vollem Umfang) und die Staatsanwaltschaft Berlin (beschränkt auf den Strafausspruch) Berufung eingelegt. Durch das angefochtene Urteil hat das Landgericht Berlin die Berufung des Angeklagten verworfen und ihn auf die Berufung der Staatsanwaltschaft zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt, von denen vier Monate als vollstreckt gelten. Ferner hat das Landgericht die Einziehung eines Betrages von 5.100,- Euro angeordnet.
II.
Die Revision des Angeklagten, mit der dieser die Verletzung formellen und materiellen Rechts rügt, hat lediglich den aus dem Tenor ersichtlichen unwesentlichen Teilerfolg.
1. Die Überprüfung des Urteils zum Schuldspruch hat keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten erbracht. Insoweit wird die Revision nach § 349 Abs. 2 StPO auf Antrag der Generalstaatsanwaltschaft Berlin verworfen.
2. Auch die Strafzumessung begegnet keinen durchgreifenden rechtlichen Bedenken.
a) Kommt es in einem Strafverfahren zu einem großen Abstand zwischen Tat und Urteil, kann dies bei der Bestimmung der Rechtsfolgen unter drei verschiedenen Aspekten von Belang sein: Zum einen kann der betreffende Zeitraum bereits für sich genommen ins Gewicht fallen, denn allein schon durch einen besonders langen Zeitraum, der zwischen der Tat und dem Urteil liegt, nimmt das Strafbedürfnis allgemein ab (vgl. BGHSt 52, 124; Senat, Beschluss vom 29. Januar 2020 - [4] 161 Ss 9/20 [9/20] - m.w.N.). Unabhängig hiervon kann zum zweiten einer überdurchschnittlich langen Verfahrensdauer - auch wenn diese sachlich bedingt war (vgl. BGH NStZ 2011, 651; BGH wistra 2009, 347; BGH NStZ-RR 2016, 7; Senat aaO) - eine eigenständige strafmildernde Bedeutung zukommen, bei der insbesondere die mit dem Verfahren selbst verbundenen Belastungen des Angeklagten zu berücksichtigen sind. Zum dritten kann sich schließlich eine darüber hinausgehende rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung zu Gunsten des Angeklagten auswirken (vgl. BGHSt 52, 124).
Die sich an diese drei Gesichtspunkte anknüpfenden Rechtsfolgen sind unterschiedlich:
aa) Bei dem großen zeitlichen Abstand zwischen Tat und Urteil und bei den mit einer langen Verfahrensdauer einhergehenden Belastungen des Angeklagten handelt es sich um zwei selbständige, gegebenenfalls im Rahmen der nach §§ 46 ff. StGB vorzunehmenden Strafzumessung getrennt zu prüfende und im tatgerichtlichen Urteil zu erörternde Strafzumessungsgesichtspunkte (vgl. BGH aaO; BGH wistra 2009, 347).
bb) Der mit der Verfahrensdauer und den durch sie verursachten Belastungen faktisch zwar eng verschränkte, rechtlich jedoch gesondert zu bewertende und zu entschädigende Gesichtspunkt, dass eine überlange Verfahrensdauer (teilweise) auf einem konventions- und rechtsstaatswidrigen Verhalten der Strafverfolgungsbehörden beruhte, wird hingegen aus dem Vorgang der Strafzumessung, dem er wesensfremd ist, herausgelöst und im Rahme...