Entscheidungsstichwort (Thema)
Betriebsgefahr einer Straßenbahn
Leitsatz (amtlich)
1. Die Betriebsgefahr, die von einer Straßenbahn ausgeht, ist grundsätzlich ggü. der eines Pkw erhöht, weil die Straßenbahn schienengebunden und ihr Bremsweg - bedingt durch das hohe Fahrzeuggewicht - sehr lang ist.
2. Verstößt der Pkw-Fahrer gegen seine Sorgfaltspflichten als Linksabbieger aus § 9 Abs. 1 S. 3 StVO, sich nur dann auf den Schienen einzuordnen, wenn er kein Schienenfahrzeug behindert, kommt - auch unter Berücksichtigung einer unfallursächlichen höheren Betriebsgefahr der Straßenbahn - eine Haftung des Straßenbahnunternehmers von mehr als 50 % nicht in Betracht.
3. Der Linksabbieger, der sich auf den Schienen einordnet, behindert nur dann kein Schienenfahrzeug, wenn bei Berücksichtigung der Verkehrslage eine Straßenbahn auch nicht alsbald herankommen kann.
Verfahrensgang
LG Berlin (Urteil vom 29.04.2002; Aktenzeichen 24 O 631/01) |
Tenor
Auf die Berufung des Klägers, die im Übrigen zurückgewiesen wird, wird das Urteil der Zivilkammer 24 des LG Berlin vom 29.4.2002 - 24 O 631/01 - teilweise abgeändert:
Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an den Kläger 65,50 Euro zu zahlen. Die weiter gehende Klage wird abgewiesen.
Der Kläger hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen. Hinsichtlich der Kosten des Rechtsstreits erster Instanz verbleibt es bei dem Urteil des LG.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Gründe
Die zulässige Berufung des Klägers hat nur hinsichtlich der geltend gemachten außergerichtlichen Rechtsanwaltskosten Erfolg. Im Übrigen ist das Rechtsmittel unbegründet.
1. Soweit der Kläger mit der Berufung die volle Haftung der Beklagten für die bei dem Verkehrsunfall vom 21.9.2001 gegen 18.30 Uhr auf der Straße Am T.-Park entstandenen Schäden begehrt, ist das Rechtsmittel unbegründet. Zutreffend hat das LG in dem angefochtenen Urteil ausgeführt, dass dem Kläger ein höherer Schadensersatzanspruch nicht zusteht. Das Gericht folgt den zutreffenden Gründen des angefochtenen Urteils. Im Hinblick auf das Vorbringen in der Berufung weist es ergänzend auf Folgendes hin:
a) Soweit der Kläger mit Schriftsatz vom 18.11.2003 unter Beweisantritt vorträgt, es sei nicht möglich, innerhalb von zwei Sekunden mit einem Pkw eine, wenn auch kurze Strecke rückwärts zu fahren und sodann eine kurze Strecke vorwärts zu fahren, weshalb die Unfalldarstellung der Beklagten nicht zutreffen könne, ist dem Beweisantritt nicht nachzugehen. Der Kläger übersieht, dass der Beklagte zu 1) nach der Darstellung der Beklagten die Betriebsbremse nicht schon in dem Zeitpunkt ausgelöst hat, als der Kläger damit begann, sein Fahrzeug - unstreitig - ein Stück zurückzusetzen, sondern erst, als das klägerische Fahrzeug sich außerhalb des Schienenbereichs befunden haben soll. Die Unfalldarstellung der Beklagten wäre daher nur dann denklogisch ausgeschlossen, wenn es nicht möglich wäre, dass der Kläger, nachdem er sein Fahrzeug außerhalb des Schienenbereichs angehalten hatte, innerhalb von zwei Sekunden so weit nach vorne in den Schienenbereich eingefahren ist, dass er mit mehreren Zentimetern in die Fahrspur der Straßenbahn der Beklagten zu 2) hineinragte. Dies ist indessen nicht der Fall. Ein Fahrzeug kann bei normaler Beschleunigung innerhalb von zwei Sekunden eine Strecke von bis zu 5 m und bei schneller Beschleunigung (3,5 m/sec2) bis zu 7 m zurücklegen (Kuckuck/Werny, Straßenverkehrsrecht, 8. Aufl., XIX. 4. Anfahrgeschwindigkeiten).
b) Ohne Erfolg macht der Kläger geltend, der Anschein spreche dafür, dass seine Sachverhaltsdarstellung zutreffe, weshalb es Sache der Beklagten sei, ihre Darstellung zu beweisen. Im vorliegenden Fall handelt es sich gerade nicht um einen typischen Lebenssachverhalt, sondern um einen eher ungewöhnlichen Einzelfall, weshalb ein Beweis des ersten Anscheins zu Gunsten des Klägers nicht eingreift. Es mag zutreffen, dass der Sachverhalt, wie er von den Beklagten geschildert wird, mehr als ungewöhnlich erscheint. Ein allgemeiner Erfahrungssatz des Inhalts, dass sich Kraftfahrer im Bereich kreuzender Straßenbahnschienen stets vernünftig verhalten würden, ist dem Gericht indessen nicht bekannt. Zudem erscheint es auf der Grundlage der Darstellung des Klägers auch nur schwer nachvollziehbar, welchen Grund der Beklagte zu 1) gehabt haben sollte, die Betriebsbremse, die er bereits 100 m vor dem späteren Unfallort betätigt hatte, wieder zu lösen, wenn sich das Fahrzeug des Klägers nach wie vor im Schienenbereich befunden hätte. Es bleibt daher bei dem allgemeinen Grundsatz, dass derjenige, der verschuldensabhängige Schadensersatzansprüche geltend macht, die Beweislast für ein schuldhaftes Verhalten seines Unfallgegners trägt. Es wäre daher Sache des Klägers gewesen, Beweis dafür anzutreten, dass sein Fahrzeug sich zu dem Zeitpunkt, als der Beklagte zu 1) die Betriebsbremse wieder gelöst hat, noch im Schienenbereich befand. Dies hat er nicht getan.
c) Eine über 50 % hinausgehende Haftung der Beklagten ergibt sich auch nicht...